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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Autoren: Harald Welzer
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eine andere Bildungs- und Wissenschaftskultur konturieren.
    Tatsächlich machen die drei bis fünf Prozent den Unterschied, weil sie praktisch zeigen und darauf beharren, dass die Dinge anders laufen sollen und können. Wir haben unter dieser Voraussetzung das Paradox einer Elite, die quer zu allen Schichten liegt und sich durch einen sehr einfachen Satz definiert: »Wir fangen schon mal an.« Während die meisten anderen sich entweder gar nicht um die Zukunft bekümmern oder sich weiter für die Fiktionen der immerwährenden Expansion begeistern, experimentiert diese Elite mit den Möglichkeiten anderer Politik, anderer Produktion, anderer Sozialität. Sie schafft Labore einer anderen Praxis. Die Ergebnisse, die dabei herauskommen, kann man zu einer Politik der Zukunftsfähigkeit kombinieren. Wenn die jemals mehrheitsfähig wird, dann deshalb, weil sie durch Praxis ein kulturelles Modell etabliert, das lebensdienlicher, eleganter, lustvoller und aufregender ist als das abgestandene. Und weil es Menschen gibt, die sich ernst nehmen und bereit sind, ein solches Modell durchzusetzen.
    Das gelingt tatsächlich nur praktisch, nie appellativ. Nie, indem diejenigen, die Teil des Falschen sind, anderen mitteilen, was jetzt gut zu tun wäre. Anders gesagt: Es gelingt nur durch praktiziertes Nichteinverstandensein. Durch Widerstand unterschiedlichster Art. Widerstand gegen sich selbst und gegen die Scheinattraktivität des weiteren Aufenthalts in der Komfortzone.
    Weil es zugleich um und gegen etwas geht. Um die Bewahrung des zivilisatorischen Standards, den der Aufstieg des Kapitalismus ermöglicht und geschaffen hat, und gegen die Zerstörung, die er nun praktiziert, da Extraktivismus und Vermüllung die Traglast der Erde radikal überschreiten. Es geht also um das Insistieren auf Freiheit, Demokratie, Recht, Chancengleichheit, Bildung und Gesundheit und damit gegen die Interessen derjenigen, deren Geschäftsmodell darin besteht, alles das zugunsten eines radikal destruktiv gewordenen Wirtschaftsprinzips zu untergraben.
    Es geht also gegen das Geschäftsmodell der Mineralölkonzerne, der Agrarindustrie, des Finanzsektors. Aus der Eigenlogik ihrer Geschäfte folgt die Zerstörung, nicht die Bewahrung künftiger Überlebensbedingungen. In der systematischen Kurzfristlogik ihrer Geschäftsmodelle gibt es erst dann nichts mehr zu verdienen, wenn die Erde und ihre Bewohnerinnen und Bewohner nichts mehr zu liefern haben. Aber diese Geschäftsmodelle funktionieren nur, solange Sie am Ende der Wertschöpfungs- und Vermarktungskette stehen, den Zapfhahn in den Tankstutzen Ihres Autos stecken, den noch flacheren Flachbildschirm kaufen und die noch fernere Fernreise buchen. Ohne Sie gäbe es solche Geschäftsmodelle nicht. Deshalb kommt es auf Sie an. Ausschließlich auf Sie.
    Gesellschaften entwickeln sich dadurch weiter, dass Privilegien bekämpft und abgebaut werden, die Veränderungen blockieren und bekämpfen. Die USA und Europa sind deshalb so sklerotisch und uninspiriert, weil alt gewordene Wirtschaftseliten ihre Privilegien kontinuierlich ausbauen und die genauso alt gewordene Parteipolitik sie dabei unterstützt. Eine Gesellschaft, in der eine gesetzliche Krankenversicherung bekämpft wird, ist im 21. Jahrhundert radikal antiquiert und wird scheitern, genauso wie alle anderen, die nicht akzeptieren können, dass eine Wirtschafts- und Industriepolitik aus dem 20. Jahrhundert unter den veränderten Ressourcenbedingungen des 21. Jahrhunderts nicht funktionieren kann.
    Der in den westlichen Gesellschaften erreichte zivilisatorische Standard lässt sich also nur unter gänzlich veränderten wirtschaftlichen Voraussetzungen aufrechterhalten. Daher muss man die Frage nach einem Leben und Wirtschaften jenseits des Kapitalismus wieder aufwerfen, die zu stellen man sich abgewöhnt hatte, seit die kommunistischen Systeme mit Recht fast vollzählig untergegangen sind. Natürlich hat gegenwärtig niemand eine Antwort darauf, wie eine postkapitalistische Wirtschaft aussehen und funktionieren würde, aber das ist kein Argument gegen den Befund, dass man mit dem Kapitalismus nicht durch das 21. Jahrhundert kommen wird. Oder besser gesagt: dass nur die wenigsten mit dem Kapitalismus durch das 21. Jahrhundert kommen werden. Eine Milliarde Menschen vielleicht. Eher weniger.
    Die Übrigen wird es das Leben kosten, wenn man ein expansives Wirtschaftsprinzip auf eine Menge von Ressourcen loslässt, die nicht für alle reicht. Diese Variante
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