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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Autoren: Harald Welzer
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sozialen Übereinstimmung mit anderen darüber, dass es man es mit Sachverhalt x oder y zu tun hat. Gerät diese Übereinstimmung ins Wanken, geht alles drunter und drüber. Wie in Orson Welles’ legendärer Hörspielfassung von H. G. Wells’ »Krieg der Welten«, die am 30. August 1938 so realistisch als Live-Reportage über eine Invasion aus dem All im Radio kam, dass zwei Millionen Amerikaner den Angriff der Außerirdischen für bare Münze nahmen. Einige packten sogar hektisch ihre Sachen und liefen auf die Straßen, um vor dem befürchteten Gasangriff der Außerirdischen zu fliehen. Die Telefonleitungen waren stundenlang blockiert. Es dauerte Stunden, bis sich herumgesprochen hatte, dass der Angriff bloß eine Fiktion war. [192]  
    Rimini Protokoll operiert, wie im Fall der Daimler-Hauptversammlung, immer mit minimalen Rahmenverschiebungen, und Klaus Bischoff konnte von Glück sagen, dass die festgefügte Dramaturgie die ganze Veranstaltung vor Schlimmerem als einer leichten Verunsicherung bewahrte. Rimini Protokoll arbeitet fast nie mit Schauspielern, sondern mit »Experten«, Menschen, die genau in der Rolle auftreten, die sie im »wirklichen Leben« innehaben. Dadurch, dass sie diese Rolle nun auf die Bühne bringen, wird aber der Rahmen gewechselt und damit die Definition verschoben: Normalerweise steht ja zum Beispiel ein Politiker gerade nicht auf der Bühne und stellt einen Politiker dar. Ein Politiker steht eher auf einem Marktplatz oder vor einer Fernsehkamera und stellt Authentizität dar. Mit dem Wechseln des Rahmens arbeitet Rimini Protokoll beständig an einer Perforierung der Wirklichkeit, macht sie durchlässiger, als sie gewöhnlich erscheint. Sie macht das aber nicht aus der Position der Wissenden und Belehrenden, wie man das leider nicht selten bei Regiearbeiten antrifft, sondern – chirurgisch gesprochen – minimal invasiv: Sie verändert eine einzige Variable und macht damit die Grenze zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit dünner, durchscheinender.
    Damit aber macht Rimini Protokoll klar, dass alles in jedem Augenblick auch anders sein könnte; dass die jeweils gegebene Wirklichkeit in Wahrheit eine Kippfigur ist. Sie entpuppt sich als lediglich eine Variante vieler denkbarer Wirklichkeiten. Ein zentrales Prinzip der Arbeit von Rimini Protokoll ist der systematische Einbezug des Zufalls in die Aufführungen: So wie einzelne Aktionäre mit absonderlichen Wortbeiträgen die Versammlungsroutine irritieren, Poster und Spruchbänder hochhalten oder unter Protest den Saal verlassen, so arbeitet der immer virulente Zufall dem Perforieren der Wirklichkeit zu. Daraus lässt sich etwas lernen: Erst wenn man den Einsprengseln anderer Wirklichkeitsdefinitionen und Weltverständnisse die Chance gibt, in Erscheinung zu treten, öffnet man Möglichkeitsräume, die durch das Verfolgen nur eines einzigen Pfades systematisch verschlossen bleiben.

Yes Men denken selbst
    Am 12. November 2008 erschien eine Ausgabe der New York Times, die ausschließlich gute Nachrichten enthielt, zum Beispiel, dass George W. Bush infolge der gefälschten Begründungen für den Irak-Krieg wegen Hochverrat angeklagt würde und Condoleeza Rice sich öffentlich für ihre Lügen im selben Zusammenhang entschuldigt habe.

Gute Nachrichten. Falsche New York Times.
    Unter die Leute gebracht wurde diese New York Times ganz anderer Art von den Yes Men, einem aus Igor Vamos und Jacques Servin bestehenden Künstlerduo, das schon 1999 bei verschiedenen Gelegenheiten als Vertreter der World Trade Organisation auftreten konnte, weil sie sich die Domain gatt.org [193]   gesichert hatten, bei der dann prompt Referenteneinladungen eingingen, die eigentlich an die WTO gerichtet waren. Die nahmen Vamos und Servin gern an und traten dann mit radikal neoliberalen Thesen auf, die bei den Gastgebern regelmäßig auf begeisterte Zustimmung trafen. Hervorgetreten und gelegentlich verhaftet worden sind sie auch im Kontext falscher Pressekonferenzen für Dow Chemical und mit dem Vertrieb eines vorgeblich von diesem Unternehmen entwickelten »Acceptable Risk Calculator«, wobei es sich um einen Index handelt, mit dem Unternehmen Regionen identifizieren können, in denen die Bevölkerung aufgrund ihrer politischen und wirtschaftlichen Lage hohe Risiken zu tragen bereit ist.
    Auf ihrer Homepage geben die Yes Men als Geschäftsmodell »correcting identities at conferences, on television, on the street« an, und genau wie Rimini Protokoll
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