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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Autoren: Harald Welzer
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arbeiten sie mit der leichten Verschiebung einer der für fix gehaltenen Variablen in den Referenzrahmen, an denen Menschen ihre Wirklichkeitswahrnehmungen orientieren. Tatsächlich reicht oft ein Anzug und eine Ausdrucksweise, die sich der Floskeln des Business-sprech bedient, um erfolgreiche Täuschungsmanöver vornehmen zu können – so etwa, als CNBC 2001 die Yes Men über die falsche WTO-Homepage zu einer Fernsehdiskussion mit Globalisierungskritikern einlud, wo Igor Vamos dann prompt die Einführung von Gerechtigkeitsgutscheinen für den Handel mit Menschenrechtsrechtsverletzungen vorschlug: Ein freier Handel sei eben immer der vernünftigste Weg, Probleme zu lösen.
    Die Yes Men gehen mit ihrer Form des Widerstands erhebliche Risiken ein, da sie sich natürlich eine Menge Anzeigen wegen Urheberrechtsverletzungen, Vorspiegelungen falscher Tatsachen usw. einhandeln und, wie gesagt, bei einigen ihrer Aktionen verhaftet wurden. Ihre politische Strategie richtet sich dezidiert gegen multinationale Wirtschaftsakteure, die längst mehr politische und ökonomische Macht akkumuliert haben als nationale Regierungen. Die Durchschlagskraft ihrer genau kalkulierten Subversionen macht deutlich, dass man Gegner in der Mediengesellschaft auch dadurch bekämpfen kann, dass man ihre Rollen ernsthafter spielt, als diese selbst es sich trauen würden. Das Spektrum möglichen Widerstands ist, wie man sieht, breit. Zuweilen fällt er auch sehr spaßig aus.

Eine Anleitung zum Widerstand
    Geschichten über Menschen, die ihren Handlungsspielraum nutzen, um auf ihre Weise die Welt besser zu machen, als sie ohne ihr Zutun wäre, gibt es viele: Man könnte hier noch von der Green Music Initiative erzählen, [194]   die Festivals etwas anderer Art mit Fahrraddiscos und Sonderzügen für Anreise und Unterkunft initiiert, von einer Einzelperson wie Ilona Parsch, die aus Rote Beete ein ökologisches Reinigungsmittel entwickelt hat, [195]   oder von Michael Goedecke, einem Personalmanager, der scheinbar chancenlose Jugendliche in Ausbildungen vermittelt hat, indem er ihnen in Vorstellungsgesprächen die einfache Frage gestellt hat: »Worauf bist du stolz?« Die Fähigkeiten, die die Jugendlichen dann, nach der ersten Überraschung, schildern, sind natürlich nicht die, die über die Schulnoten abgeprüft werden. Das Programm ist außerordentlich erfolgreich: Seit 2001 konnten 3800 Jugendliche in reguläre Ausbildungen vermittelt werden. Isa Pini, der stolz war, Klarinette spielen zu können, hat inzwischen das Konservatorium absolviert und ist ein gefragter Musiker. [196]  
    Alle diese höchst unterschiedlichen Projekte haben ein gemeinsames Merkmal: Sie verändern einen zum Teil winzigen Aspekt des gewöhnlichen Umgangs mit den Menschen und den Dingen. Im Zusammenhang von neuen architektonischen Strategien habe ich vorhin schon den Vergleich mit dem Judogriff zitiert: Man muss nur den richtigen Punkt erwischen, um mit einer einfachen und eleganten Geste die Verhältnisse komplett zu drehen. Das erfordert eine Form der praktischen Intelligenz, die Möglichkeiten in die Wahrnehmung treten lässt, die normalerweise unsichtbar und daher ungenutzt bleiben.
    Das Weitererzählen solcher Geschichten des Gelingens perforiert selbst schon die nur scheinbar hermetische Wirklichkeit: Da geht etwas, obwohl immer alle sagen, dass da nichts geht. Aus der Summe solcher Geschichten lässt sich peu à peu eine Kombinatorik des guten Umgangs mit der Welt entwickeln. In dieser Kombinatorik kommen alle Elemente zusammen, von denen in diesem Buch die Rede war: von der Achtsamkeit über die Gemeinwohlorientierung bis zur Nutzungsinnovation. Auch wenn manche der Vorhaben und Projekte scheitern und einige neue Strategien des Wirtschaftens und Zusammenlebens sich als nicht tragfähig erweisen, so liefern sie doch wertvolles Material über die Erfolgs- und Scheiternsbedingungen eines anderen Umgangs mit der Welt. Und vor allem: Auch die Geschichten des Scheiterns liefern Material für die Gegengeschichte zu der abgestandenen, geheimnis- und verheißungslos gewordenen Fortschrittsgeschichte, die die Moderne über sich selbst erzählt und die in keiner Hinsicht mehr verfängt. Eine gute Geschichte hat ja nicht nur einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluss; sie hat auch jede Menge Komplikationen, ihre Protagonisten müssen Hindernisse überwinden, mit Enttäuschungen umgehen, mit Widerfahrnissen leben.
    Glatte Geschichten sind so wenig interessant wie
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