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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Autoren: Harald Welzer
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solche, deren Ende von Beginn an feststeht. Daher ist die Gegengeschichte schon deshalb attraktiv, weil sie von der Zukunft her geschrieben wird: vom guten Leben her und von der Überzeugung, dass man es erreichen kann. Da ist der Ausgang offen; das war bei der Geschichte, die die expansive Moderne über sich erzählt hat, auch so, und das machte sie so attraktiv und spannend, dass man sich in sie einschreiben konnte und wollte. Sie trug Identität, weil man Teil einer gemeinsamen Reise in eine gemeinsame Zukunft sein konnte. Das Ende dieser Geschichte ist nicht mehr offen, seit wir wissen, dass sie an dem schlichten Sachverhalt scheitert, dass es keinen Raum für weitere Expansion mehr gibt. Nun hat die Geschichte keine Aussicht mehr auf ein Happy End, und seit man das weiß, ist sie auch nicht mehr spannend, sondern hat etwas unangenehm Zwanghaftes bekommen. Sie wirkt nur noch wie eine fixe Idee.
    So zwanghaft ist inzwischen die absurde Geschichte von den Verheißungen des Wachstums, von der »green economy«, von der Smartness der Ingenieure. Und so zwanghaft das politische Personal, das sich zur Kenntnis zu nehmen weigert, dass es für junge Menschen bereits die personifizierte Antithese zu allem darstellt, was sie selbst werden und sein möchten. Das ist eine perfekte Ausgangslage für das Erzählen der Gegengeschichte: von einer offenen Zukunft mit anderen Mitteln.
    Aber: Das Schreiben einer solchen Geschichte darf man sich nicht gemütlich vorstellen. Diese Geschichte wird gegen die bestehenden Verhältnisse und die machtvollen Interessen, die sie tragen, erzählt und gelebt werden. Sie wird nur unter der Voraussetzung wirkungsmächtig werden, dass in jedem gesellschaftlichen Segment, in jeder Schicht, in jedem Beruf, in jeder Funktion ein paar Prozent der Beteiligten beginnen, die Dinge anders zu machen. Der Weg in die nachhaltige Moderne wird kein harmonisches Gespräch über eine schlechtere und eine bessere Praxis sein, und er wird auch nicht erfolgreich begangen werden, wenn sich eine reine Grass-Root-Bewegung auf den Weg macht. Soziale Bewegungen werden dann mächtig, wenn ihre Träger nicht aus Subkulturen kommen, sondern aus allen gesellschaftlichen Gruppen.
    Eine Politik für eine nachhaltige Moderne wird also nur dann einflussreich, wenn es überall Avantgarden gibt, die eine neue Geschichte erzählen: Es müssen drei bis fünf Prozent der Unternehmer und Vorstände sein, die sich in diese Geschichte einschreiben, drei bis fünf Prozent der Unterhändler auf den internationalen Klimaverhandlungen, drei bis fünf Prozent der Staatschefs, drei bis fünf Prozent der Professorenschaft, der Lehrer, der Polizistinnen, der Anwälte, der Journalisten, der Schauspielerinnen, der Hausmeister, der Arbeitslosen usw. Dann potenzieren sich die Kräfte, weil das, was die einen tun, von den anderen begleitet und gefördert werden kann. Eine Bürgerinitiative, die gegen die Interessen der großen Energieversorger arbeitet, braucht die Unterstützung der Kommune, für die sie eine andere Energieversorgung erkämpfen will, und die lokale Mobilitätsinitiative junger Klimaaktivistinnen braucht die Öffentlichkeit, die die etablierten Medienleute bereitstellen können. Eine erfolgreiche Car-Sharing-Initiative braucht den Politiker, der eine andere Parkraumbewirtschaftung durchsetzt und die gemeinsam genutzten Autos privilegiert; eine Nachhaltigkeitsinitiative in einem Unternehmensvorstand braucht den Betriebsrat, der es unterstützt, wenn Mitarbeiter für Gemeinwohldienste freigestellt oder wenn Duschen und Umkleiden für diejenigen installiert werden, die mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen.
    Schon kurze Gedankenexperimente zu jedem einzelnen dieser Beispiele und zu tausend möglichen anderen machen sofort deutlich, wie derlei Judogriffe die Benutzeroberfläche der Gesellschaft verändern würden: Sobald Günther Jauch oder Sandra Maischberger ihre Handlungsspielräume für das Erzählen einer anderen Geschichte nutzen würden, säßen in ihren Runden nicht mehr die immer gleichen Politiker- und Intellektuellendarsteller, sondern Menschen, die etwas anders machen und sich darüber austauschen; sobald Politikerinnen in Funktionen reduktive Strategien vertreten würden, kämen endlich Gestaltungskonflikte wieder zurück in die Alternativlosigkeitskultur der Rathäuser und Parlamente; sobald Schul- und Universitätsleitungen den ministeriellen Weisungen nicht mehr bedingungslos und vorauseilend folgen würden, würde sich
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