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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Leipert Sabine
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Fehltritt hauten mich plötzlich um, zusammen mit dem zweiten Glas Wein, das ich inzwischen getrunken hatte.
    »’tschuldigung.« Ich schüttelte den Kopf, aber ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Herr Jost reichte mir stumm ein Taschentuch. Als ich mich wieder ein bisschen beruhigt hatte, räusperte er sich leise. Er zögerte.
    »Ich wünschte, ich könnte Ihnen jetzt irgendeinen wertvollen Rat geben, aber glauben Sie mir, es gibt einen Grund, warum ich mit fast vierzig noch Junggeselle bin.«
    Er sagte tatsächlich Junggeselle, nicht Single, und komischerweise konnte ich in diesem Moment nur daran denken, dass er sich selbst bei einem gemütlichen Gespräch auf dem Sofa und nach zwei Gläsern Wein immer noch unheimlich gewählt, ja fast altmodisch ausdrückte. In den Redaktionssitzungen, die er regelmäßig mit druckreifen Sätzen führte, hatte ich mich manchmal gefragt, ob er immer so gestochen sprach. Jetzt wusste ich es.
    Offenbar hatte ich ihn ziemlich erstaunt angestarrt, denn er fühlte sich genötigt, eine Sache klarzustellen: »Nein, ich bin nicht homosexuell, falls Sie das gerade überlegt haben. Ich werde von meinen Freundinnen einfach nur schneller rausgeworfen als die Trainer beim FC.«
    Jetzt musste ich doch lachen. »Danke, es ist immer tröstlich zu hören, dass andere noch schlechter dran sind als man selbst.«
    Er schenkte mir noch einmal nach, und ich nutzte die Gelegenheit, ihn näher zu betrachten. Bis jetzt hatte ich ihn immer nur als Chef, nie als Mann mit Freundinnen, Beziehungsstress und dem ganzen Drumherum gesehen, weil er immer wie eine Maschine wirkte. Immer gut gelaunt, immer hochmotiviert, immer am Arbeiten.
    Dabei war er durchaus attraktiv. Schlank, nicht sportlich wie Tim, das hatte er eben schließlich selbst zugegeben, aber trotzdem schlank. Vermutlich eher von zu viel Stress und zu unregelmäßigen Mahlzeiten. Er hatte kurze, lockige schwarze Haare, durch die nicht nur die ersten, sondern auch schon die zweiten Grauen durchschimmerten. Und er hatte überraschend sanfte Gesichtszüge, dafür, dass er einen so wichtigen Posten innehatte. Für seinen Stress und sein Arbeitspensum wirkte er sowieso überraschend jugendlich. Leicht gebräunt, trotz Bürojob, gut rasiert, trotz langem Arbeitstag. Die Krawatte hatte er abgelegt und die Ärmel von seinem Hemd hochgekrempelt, aber sonst hätte er jederzeit so ins Büro gehen können.
    »Sie machen das doch ganz gut«, sagte ich, um meinen kurzen melodramatischen Ausrutscher zu überspielen.
    »Was?«
    »Das Trösten, trotz Berufskrankheit.«
    »Ja? Ich gebe mir auch wirklich Mühe, nicht zu taktlos zu sein.«
    »Danke.«
    »Es ist ja nicht gerade so, als wäre mir Ihre Gesellschaft unangenehm.«
    Er lächelte mir zu. Ich lächelte zurück. Und dann wurde ich taktlos. Als er mir mein volles Weinglas reichte, beugte ich mich mit eindeutigen Absichten zu ihm herüber, obwohl ich es besser wusste. Aber mit einem Viertelliter Wein und einer gefährlichen Mischung aus Trauer und Wut intus war meine Hemmschwelle inzwischen gen Null gesunken. Ich küsste ihn. Es störte ihn nicht. Er erwiderte den Kuss.
    »Nur fürs Protokoll: Das hier …«, er deutete zwischen uns beiden hin und her, »war ganz und gar nicht meine Absicht, als ich Sie zu einem Glas Wein eingeladen habe.«
    »Meine auch nicht, als ich Ihre Einladung angenommen habe.«
    Und schon lagen wir knutschend auf dem Sofa. Als wir uns schon fast unserer Klamotten entledigt hatten, fragte er plötzlich: »Sind Sie sicher, dass wir das tun sollten?« Aber wir wussten beide, dass es eine rein rhetorische Frage war. Sie musste zur Beruhigung des Gewissens einmal gestellt werden, mehr nicht. Dementsprechend erwiderte ich wahrheitsgemäß: »Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass wir das nicht tun sollten!«
    Und dann taten wir es. Schnell, unromantisch, auf dem Sofa.
    Noch während wir es taten, bekam ich Tim gegenüber ein schlechtes Gewissen. Zum Glück bewies mein Chef danach so viel Taktgefühl, mich mit meinen Gewissensbissen allein auf dem Sofa übernachten zu lassen.

Tagesunordnungspunkte
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Hannes schon in der Redaktion und ich viel zu spät dran. Er hatte einen Zettel auf der Sofalehne hinterlassen. »Guten Morgen, ich wollte Sie nicht wecken. Kaffee ist in der Küche. Bis später.«
    Eine unproblematische Nachricht. Bis auf diese letzten beiden Worte. Normalerweise hätte ich mich so schnell wie möglich verdrückt und den
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