Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Leipert Sabine
Vom Netzwerk:
ein freundliches Gesicht aufzusetzen, als ich mich zu ihm umdrehte. »Ich bin einfach nur müde.«
    »Und ich zwinge Sie mit meiner Jumbo-Popcorn-Packung dazu, mir Gesellschaft zu leisten. Es tut mir leid. Ich bin wirklich ein Idiot, warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
    »Na ja, weil Sie auch irgendwie mein Chef sind.«
    »Ja, man hat es nicht leicht an der Spitze. Keiner ist ehrlich zu einem.«
    Er sah mich prüfend an und mir war klar, dass er mir meine Ausrede nicht abnahm. »Wollen Sie darüber reden?«
    »Besser nicht.«
    »Weil ich Ihr Chef bin, oder ein Idiot?«
    »Beides.«
    Er bewies Humor und lachte über meinen ernst gemeinten Scherz.
    »Gott sei Dank. Ich bin ohnehin nicht gut im Trösten. Berufskrankheit – fehlendes Taktgefühl.«
    Tja, was sollte man dazu sagen. Am besten gar nichts. Ich versuchte mich unauffällig aus der Affäre zu stehlen. »Also gut. Dann werde ich mal … bis morgen.«
    Doch kurz hinter dem Fitnesscenter schloss mein Chef wieder zu mir auf und fragte: »Haben Sie vielleicht Lust, noch auf ein Glas Wein mit zu mir zu kommen?«, als wollte er damit sein mangelndes Taktgefühl unter Beweis stellen.
    »Wie bitte?« Seine Frage wäre von einem Fremden schon unverschämt genug gewesen. Das hatte mir zu einem erfolgreichen Abschluss dieses miserablen Tages gerade noch gefehlt.
    »Sie verstehen jetzt wahrscheinlich, was ich eben mit der Berufskrankheit meinte, oder?«
    »Allerdings. Wenn Sie mit Ihrer Einladung das meinen, was ich darunter verstehe.«
    »Gut, dann lassen Sie mich die Frage etwas genauer formulieren: Ihnen geht es offensichtlich nicht gut, und ich kann Ihnen mit meinem fehlenden Taktgefühl nicht helfen. Aber ich fühle mich irgendwie schuldig, Sie aus dem Kino vertrieben zu haben. Was ich also anbieten könnte, und das absolut ohne Hintergedanken, wäre, dass wir zu mir gehen – meine Wohnung ist gleich um die Ecke –, eine Flasche Wein köpfen und auf gar keinen Fall das machen, was Sie gerade befürchtet haben.«
    »Und was machen wir dann?«
    »Steif auf dem Sofa sitzen und ein hundert Prozent sentimentalitätsfreies Programm im Fernsehen anschauen.«
    Okay, der Kerl verstand es, mich zu überraschen. Eine Unterhaltung mit ihm war wirklich alles, nur nicht langweilig.
    »Danke, aber ich denke, das wäre in dieser Situation gerade nicht so klug.«
    »Sicher. War nur ein Angebot. Schönen Abend noch.«

Quid pro quo
    »Französisch, Italienisch oder Spanisch?«
    »Entscheiden Sie.«
    Ich kannte mich ziemlich gut. Gut genug, um zu wissen, dass ich in derartigen Situationen noch nie das getan hatte, was klug war. Für Tina war es jetzt zu spät und für Tim noch zu früh. Ich hatte ihn noch nicht einmal eine Stunde zappeln lassen, das war eindeutig zu wenig. Was also sprach gegen ein Gläschen Wein bei einem netten Gespräch mit meinem Chef?
    Die Tatsache, dass es nicht bei einem Glas bleiben würde, vermutlich, und dass es dementsprechend vielleicht auch nicht bei dem Gespräch bleiben würde, und vor allem die Tatsache, dass er mein Chef war. Aber das alles verdrängte ich erst mal und ließ den Abend auf mich zukommen.
    Herr Jost hatte nicht gelogen. Seine Wohnung war nicht mal fünf Minuten vom Kino entfernt. Soweit man von einer Wohnung sprechen konnte. Im Grunde bestand sie aus zwei großen Etagen einer ehemaligen Fabrik, die durch eine enge Wendeltreppe verbunden waren. Und genaugenommen wohnte er dort auch noch nicht richtig. Denn außer einem Stapel Umzugskartons, der uns am Eingang empfing, verloren sich in seinem »Wohnbereich« lediglich ein abgenutztes Ledersofa und ein überdimensionaler Flachbildschirm. Kein Regal, kein Tisch, keine Arbeitsecke. Dafür eine noble Edelstahl-Einbauküche in der anderen Ecke des Raumes, mitsamt Hightech-Kochinsel, hinter der mein Chef gerade auf Tauchstation gegangen war, auf der Suche nach dem versprochenen Wein.
    Ich wusste nicht, ob ich meine Entscheidung schon bereute, oder einfach nur auf die nächste Überraschung gespannt war. Auf jeden Fall war ich nervös. In erster Linie wohl auch, weil es nichts gab, womit ich mich ablenken konnte. Keine Fotos oder Bilder an den Wänden, keine Bücher, CDs, Zeitschriften. Ein Mönch war besser eingerichtet. Jetzt verstand ich, warum er seine Abende lieber im Kino verbrachte.
    »Setzen Sie sich doch«, kam es von der Küche herüber. »Viel Auswahl haben Sie ja nicht.«
    Ich setzte mich aufs Sofa. Herr Jost kam mit zwei Gläsern Rotwein dazu, die er mangels Tisch auf einem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher