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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Leipert Sabine
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und die Welt verrückt gemacht. Wo warst du denn die ganze Nacht?« Tim empfing mich in einem ziemlich aufgelösten Zustand.
    »Woanders.«
    Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu, und ich hatte sofort das Gefühl, dass er Bescheid wusste. Er kannte mich eben viel zu gut. Ich zuckte mit den Schultern und ging ohne eine weitere Erklärung an ihm vorbei in die Wohnung. Tim folgte mir. Ihm war anzusehen, dass er genauso schlimme Stunden hinter sich hatte wie ich. »Es tut mir so leid, Karina.« Er wartete gar nicht erst, bis wir das Wohnzimmer erreicht hatten, er wollte es sofort loswerden. »Ich wollte dir nicht wehtun, wirklich nicht.«
    Ich blieb stehen und atmete tief durch. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nicht so schnell nachzugeben, aber als ich Tim da so stehen sah, völlig am Boden zerstört, tat er mir mehr leid als ich mir selbst. Trotz seiner ein Meter neunzig wirkte er in diesem Moment irgendwie zerbrechlich. Wir sahen uns schweigend an.
    »Ich weiß«, flüsterte ich schließlich.
    »Ich … ich …« Tim rang nach Worten, aber ich wollte nur noch, dass er mich in den Arm nahm, dass wir alles andere vergaßen, seine Französischlehrerin, Hannes, die blöde amerikanische Liebeskomödie.
    »So etwas kann eben passieren«, kam ich ihm schließlich zu Hilfe, um ihn und auch mich endlich von diesem Drama zu erlösen. »Zu viel Wein, zu viel Paris … Es war ein Ausrutscher, eine Nacht.«
    Er sah mir lange in die Augen und ich dachte, dass er mich durchschaute, weil ich ihn viel zu leicht davonkommen ließ. Aber das war es nicht.
    »Es war nicht nur eine Nacht, Karina.« Er hatte Mühe, es auszusprechen, presste es hervor, als hätte er dabei Schmerzen. Als hätte er sich an diesen Worten die Zunge verbrannt. Und plötzlich war mein Kopf leer.
    Mit einem Mal herrschte Stille im Raum. Absolute Stille, kein Ton, keine Bewegung, nur Tims schwerer Atem und mein pochendes Herz. Minutenlang konnte ich mich nicht bewegen, geschweige denn etwas sagen. Ich konnte nur Tim entsetzt anstarren, weil mir klarwurde, dass unsere Zukunft nicht mehr in meiner Hand lag. Ich hatte es mir zu einfach vorgestellt. Die Frage war nicht, ob ich ihm verzeihen konnte, denn dazu war ich nach gestern Nacht mehr als bereit. Die Frage war, ob Tim sich überhaupt verzeihen lassen wollte. Ob er mich noch wollte.
    Bis eben hatte ich es für einen einfachen Seitensprung gehalten. Aber die Verzweiflung, die ich in Tims Stimme hören konnte, machte mir Angst. Er hatte mit seiner Kollegin geschlafen. Und zwar nicht nur, weil ihnen bei zu viel Rotwein und dem Anblick des Eiffelturms die Hormone durchgegangen waren. Es war kein Ausrutscher gewesen. Er hatte mit ihr mehr als nur eine Nacht verbracht. Vielleicht sogar jede Nacht. Und vielleicht hatte es auch schon lange vor Paris angefangen. Aber genauere Details ersparte er mir zum Glück.
    Ich räusperte mich. Aber meine Stimme war immer noch belegt, als ich Tim fragte: »Liebst du sie?« Ich versuchte, seinen Blick einzufangen, aber er schaute auf den Boden – und schwieg. Sein Schweigen war unerträglich. Er hätte »Nein« sagen müssen, und zwar sofort, wie aus der Pistole geschossen, ohne darüber nachzudenken. Nachdenken bedeutete Ja , auf jeden Fall nicht Nein , meinetwegen bedeutete es auch Ich weiß es nicht , aber auch das hieß über Umwege wieder Ja , zumindest war es kein eindeutiges Nein .
    Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog. Wie mir die Luft wegblieb. Ich schaute Tim nicht mehr an, als ich mich sagen hörte: »Ich hole nach der Arbeit ein paar Sachen ab.« Dann ging ich fast mechanisch zur Wohnungstür.
    »Nein, warte, Karina.« Er klang verzweifelter als ich, dabei hatte die Entscheidung doch bei ihm gelegen. Er hätte einfach nur nein sagen müssen. Er lief mir hinterher und fasste mich fest an den Schultern, als wollte er mich zum Bleiben zwingen. »Lass uns doch bitte in Ruhe darüber reden.«
    Ich sah ihn an und spürte bereits die Tränen in mir hochsteigen. »Nicht jetzt.« Jetzt wollte ich einfach nur weg. So schnell wie möglich verschwinden. Am liebsten gleich komplett von der Erdoberfläche. Nichts mehr sehen müssen, besonders Tim nicht. Nicht nachdenken müssen, mir nicht um Kai Sorgen machen müssen. Einfach nur verschwinden.
    Tim wandte getroffen seinen Blick ab. Dann fragte er, ob er etwas für mich tun könnte, wahrscheinlich aus reinem Schuldgefühl.
    »Ja. Du kannst mit Kai zum Spielplatz gehen, wenn ich nachher vorbeikomme«, erwiderte ich eiskalt.
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