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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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Grönemeyer-Konzert gedacht, für das sie nach München gefahren war. Sie stand in der ersten Reihe des Circus Krone und hatte die ganze Nacht gesungen, getanzt, tanzen, tanzen, das Glück hatte sie bei jedem Song durchströmt, alles Falsche fiel von ihr ab, alles Schwere, dem sie es so leicht gemacht hatte. Ihr Herzschlag war wie ein Drummer, der einen Rhythmus anfeuert, der alles davonfliegen lässt, was einen vom Fliegen trennt. Diese Lieder zogen sie an, ihre Wahrheiten machten ihr nichts vor, sie machten sie pur, sie waren ungeschminkt, sie machten sie nackt, aber waren hier von allen geteilt am schönsten, sie waren ihr auf den Leib geschrieben, ihr ins Gesicht gesungen, diese Lieder sagten, lieb dich, wie du bist, und liebe, wie du bist. Die Lieder kleideten sie in Worte und nahmen sie zurück, wo es keine Worte mehr brauchte, weil die Haut sprach, weil der Körper sprach, weil die Blicke sprachen. Diese Musik machte aus ihren Wunden Wunder, und sie hörte auf, sich darüber zu wundern. Sie verschwiegen nichts und brachen das Schweigen, ohne das Geheimnis zu verraten, das in allem mitschwang und jedem die Würde gab, die kein Konjunktiv war. Ihr war, als würde Grönemeyer direkt für sie singen, als schaue er sie an. Aber es ging sicher allen so, das machte ihr nichts aus. Sie alle sangen mit und ihrer aller Leben sang mit, tanzte plötzlich, war erträglich und nicht nur erträglich, sondern trug, trug über Flüsse, trug Zuversicht, trug dazu bei, dass sich was drehte, dass das ausgeschlossene Glück endlich den richtigen Dreh fand, das Herz wie eine Tür zu öffnen, die gar nicht verriegelt war, nur angelehnt.
    Grönemeyer gab alles, damit sie alles geben konnte, was sie immer zurückhalten musste. Er spielte alle Songs, die sie ihr Leben begleitet hatten, die Songs, die nicht in den Hitparaden thronten, die Songs aus der zweiten Reihe, die aus dem Schatten kamen und plötzlich in dem Licht standen, das sie verdient hatten. Songs, die waren wie das Publikum, nicht im Rampenlicht, keine Helden, aber mit Schmetterlingen im Herzen und im Bauch das Gefühl, das nicht trügt. Songs, die, nachdem das letzte Lied gespielt war, nachdem alles zu Ende scheint, plötzlich losröhrten, denn es war nie zu spät, zu tanzen, statt sich vom Schicksal mit den Füßen treten zu lassen. Ihr war egal, ob jemand sie verstand, verstand, was sie hier empfand. Sie war ganz bei sich und sie durfte es sein, sie traute es sich und traute es sich zu und das gab ihre eine ungeheure Kraft. Auch wenn es ihr bei ihrem Lieblingslied die Füße wegzog, auch wenn sie die Tränen nicht zurückhalten konnte, sich nicht mehr beherrschen wollte, nichts mehr beherrschen wollte, das war sie, das war, wie sie lebte, sich fühlte: Ich steh auf, streun durchs Haus, geh zum Kühlschrank, mach ihn auf. Er ist kalt, leer. Beweg mich im aussichtlosen Raum, führ Selbstgespräche, hör mich kaum. Bin mein Radio, schalt mich aus. Ich würde gerne verstehen, aber ich weiß nicht, wie es geht.
    Bonnie sang jedes Wort mit, jedes Wort sang in ihr, weinte mit ihr, aber je trauriger sie wurde, desto mehr kam mit den Tränen das Lächeln zurück. Ich fühle mich unbewohnt. Ja, unbewohnt. Und plötzlich traf sie ein Lächeln, das Blumen ins Fenster stellte, das die Wohnung möblierte, den Kühlschrank füllte, das sagte, wir haben alle Zeit der Welt und es wird eine gute Zeit. Bonnie lächelte zurück. Auch wenn sie wusste, dass ihre Wohnung heute nur ein Hotelzimmer sein würde.

17
    »Was heißt das, Vater und Mutter ehren?«, Ödöns Stimme wurde lauter. »Ich soll ihnen mit Achtung begegnen? In der Kirche jedem Glied der Gemeinde? Mit Achtung. Achtung, ein Glied der Gemeinschaft. In der Gemeinde, wissen Sie, Herr Pater, Sie sind doch auch ein Glied der Gemeinde, dem ich mit Achtung begegnen soll, nicht? In der Gemeinde klingt für mich immer wie in der Umklammerung, im Würgegriff, im Schwitzkasten, wir schwitzen gemeinsam, in der Sauna, im Kältebecken, wir sind ein Team, wir sind ein Team, ihr Seelsorgeteam, sagte der Priester an Weihnachten, ihre Dienstleister der Seele.
    Ich bin allein durch die Straßen gelaufen, leere, hell erleuchtete Straßen, das ganze Glück, das mir heimleuchtete, es ist ein Kind geboren, ein Kind, aber zu Hause, daheim, war kein Kind, das Haus war leer, keine Mitglieder der Familiengemeinschaft, leer, das Wohnzimmer, das Kinderzimmer, das Schlafzimmer, die Küche, der Flur, der Keller, der Trainingsraum, die Sauna, die
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