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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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seine Rippen mutierten zu Kühlaggregaten, sein Körper kämpfte in der Kälte um sein Überleben, verkrampfte, sperrte alle Muskel, verriegelte jede Bewegung mit Schmerz, keine falsche Bewegung jetzt. Was war, wo lag der Grund?
    »Ich glaube«, presste er heraus und hasste sich dafür, dass er nach »glaube« eine Pause machen musste, »ich glaube, ich bin nicht von meinem Vater, ich bin ein Bankert, ein Kuckucksei, was auch immer, oder ganz adoptiert, ich weiß nicht, keiner hat etwas gesagt, aber es ist ein Gefühl, es war immer ein Gefühl in mir, etwas stimmt nicht, woher diese Distanz, dieser Hass auf mich, ohne diesen Hass hätte ich nie Gott angreifen können, immer wenn sie Liebe sagten, hörte ich Hass, wir lieben dich, unser geliebter Sohn, in Liebe Deine Eltern, Hass, Hass, Hass, hassen, sie hassten mich, ich war schuld, ich war die Schuld. An was war ich schuld? Worin lag sie? Warum sprachen sie nicht mit mir, warum spürte ich nur, was ich nicht wusste? Wie sollte ich sie ehren, wenn ich nicht wusste, ob sie meine Eltern sind, ich sie aber lieben musste, weil sie meine Eltern sind. Ich verglich dauernd Photos, ihre Bilder mit mir, suchte Ähnlichkeiten, schnitt ihre Köpfe aus, setzte mich wie ein Suchbild, ein Puzzle aus ihnen zusammen, wollte von ihnen abstammen, wollte alles nach ihnen benennen, die Nase der Mutter, die Liebe zur Schokolade, ein Schleckermaul wie seine Mutter, er fährt Ski wie sein Vater, dieser Blick, ganz der Vater.
    Schon sein Vater hatte seinen Vater gehasst, ohne dass Ödön je eine Ahnung gehabt hätte, warum, nicht wusste wo dieser Hass, der von Generation zu Generation weitergegeben wurde, seinen Ursprung hatte, die Urszene, dieses eingebrannte: du sollst deinen Vater hassen wie dich selbst, dieser Zwang, alle Liebe an einer Wand zu stauen, bis man an ihr erstickt und nur noch der Hass einen vor dem Ertrinken rettet. Warum waren sie zu ihren Söhnen, wie Tiere zu ihren Jungen sind?
    Er hatte seinem Vater nie verziehen, dass er das Haus des Großvaters im Spertental, hier in den Bergen, verkaufte, schon vor dessen Tod, als er noch im Sterben lag, als könnte er ihm mit diesem Verkauf das Licht ausblasen, ihm heimleuchten, indem er es ihm heimzahlte. Und Ödön durfte nach Großvaters Tod das Haus entrümpeln, entsorgen. Du hast ihn doch geliebt, sagte sein Vater, nimm dir, was du brauchst.
    Ödön hatte auf den Wilden Kaiser geblickt, zwischen den Tannen in ihren weißen Kutten. Wenn er das Feuer anfachte und den alten Krempel verbrannte, hatte er sich gefragt, würden sie dann nackt dastehen, knochig und verschossen wie sein Großvater, der hier im Garten gestanden und das Holz mit entblößtem Oberkörper in Scheite gehackt hatte, die er dann an die Hauswand stapeln durfte. Es wurde kein Wort gesprochen, nie ein Wort, und Ödön hatte, hypnotisiert von den zwischen Narben tanzenden Muskelbergen, seinen Blick nicht abwenden können, vor allem von dem Tattoo auf Großvaters Unterarm, zu dem er ihn nie hatte fragen dürfen und das er sich nie hatte erklären können. Jetzt würde er die letzten Scheite Großvaters verheizen. Und seine Abwesenheit ließ ihn nah und näher kommen.
    Ein Zweig war damals unter der Schneelast zusammengebrochen und hatte Ödön zurück in die Gegenwart geschreckt. Ihm war die Stille aufgefallen. Eine unmögliche Stille. Kein Auto, keine Lifte, kein Helikopter, der die Schädel- und Beinbrüche ausflog, keine Krähe, keine Kuh aus den Ställen, kein Menschenlaut, alles still. Etwas Gedämpftes lag in der Luft, erinnerte er sich jetzt, als wäre die Ruhe, erinnerte er sich an Bowles, eine bewusste Kraft, die das Eindringen von Geräuschen verübelt und jedes Geräusch sogleich mindert und verstreut. Schneewüste, sagte sich Ödön, der Himmel über dem Schnee. Pulverschnee, Schnee ohne jede Spur, bis du kommst und sie ziehst. Jetzt musste er wieder an Huller denken, den gescheiterten Skihelden. Sein Großvater, der gesagt hatte, den Huller wird eine Lawine begraben, dem Huller fehlt jeder Respekt vor dem Berg. Hatte Großvater wirklich recht behalten, fragte sich Ödön und schweifte in Gedanken ab, während er stumm vor dem Pater kniete. Es schien so.
    Mit meinem Großvater, sagte er unvermittelt dem Pater, war es wie mit einem Skischuh. Einem Skischuh, in den man sich zwang, den der Fuß störte und der sich deshalb störrisch gegen den Einstieg wehrte und den Wunsch, sich widerstandslos anzupassen. Ödön blickt auf seine Skischuhe. Seine Schuhe
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