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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil
Autoren: Holger Wuchold
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gefährlich werden würde, stimmte ihn euphorisch. Ein paar Mal war es Willem sogar passiert, dass er plötzlich auf der Straße in geradezu schallendes Gelächter ausgebrochen war. Die Leute hatten sich nach ihm umgedreht. Doch ihre Ahnungslosigkeit und die Verblüffung in ihren Gesichtern hatten ihn noch mehr erheitert.
    Fast täglich war er an Hewitts Haus vorbeigeschlichen, war durch den Holland Park gestreift. Doch nur einmal hatte er Hewitt gesehen. Nicht allein, sondern wieder mit seiner Tochter, die dieses Mal mit einem Hund, einem Golden Retriever, im Park spazierte.
    Aber Willem hatte noch keine Idee, wie er an das Kind herankommen könnte. Noch mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm die Frage, was er mit dem Kind anstellen würde, falls er es überhaupt zu fassen kriegte. Patricia musste mit Sicherheit für zwei, drei Tage irgendwo versteckt und versorgt werden, vielleicht sogar für eine Woche. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo. Zudem konnte er mit Kindern nichts anfangen. Kinder waren für ihn kleine Ungeheuer, unberechenbare Monster, die nur ihren Instinkten folgten. Er selbst dachte nie an seine Kindheit. Er konnte sich gar nicht vorstellen, jemals ein Kind gewesen zu sein. Gleich in welchem Alter, mit fünf, mit fünfzehn oder mit fünfunddreißig, Willem war immer derselbe gewesen und würde es wohl immer bleiben, ohne jede tiefe Veränderung.
    Er erkannte bald, dass er die Sache niemals allein würde durchziehen können. Er brauchte einen Komplizen. Wer würde den Wagen fahren? Wer würde das Kind bewachen, wenn er das Lösegeld abholte?
    Eine Stadt wie London war voller Typen, die zu allem bereit waren, weil sie nichts zu verlieren hatten. Am Tag lungerten sie in der U-Bahn-Station Earls Court herum und bevölkerten in Soho die Shaftesbury Avenue bei Nacht. Sie taugten aber für Willems Zwecke nicht, da sie mit ihrer Selbstverachtung auch ihn gefährden würden. Er stellte sich jemanden vor, der wie er den Ehrgeiz hatte, tatsächlich ein neues Leben anzufangen, und dem es nicht nur darum ging, das gegenwärtige wegzuwerfen.
    Von allen, die er in London kannte, kam dafür nur eine Person in Frage: Pia, eine kleine Spanierin, die, so weit Willem wusste, kaum älter als zwanzig Jahre alt war.
    Am späten Nachmittag veränderte die Stadt plötzlich ihren Charakter. Mit dem beschaulichen Leben war es schlagartig vorbei. Eine unangenehme Hektik machte sich breit, am unangenehmsten in der U-Bahn. Jeder wollte schnell irgendwohin, als ob wer weiß was auf ihn wartete.
    Willem blieb nichts anderes übrig, als sich dem Tempo anzupassen. Er freute sich darauf, Pia wiederzusehen. Andererseits hatte er ein bisschen Angst davor. Wie würde sie auf sein Angebot reagieren? Hastig lief er mit der Masse die steilen Treppen hinab, um von den Nachfolgenden nicht überrannt zu werden. Der startbereite Zug war bereits voll bis auf den letzten Stehplatz. Doch die Nachrückenden ließen ihm keine andere Wahl. »Mind the doors, please!« In letzter Sekunde wurde auch Willem noch reingestopft. Green Park war zum Glück der nächste Halt. Die Türen öffneten sich, und er wurde hinauskatapultiert.
    Auf der Rolltreppe nach oben positionierte er sich artig rechts, während links die aufgeregte Meute vorbeihetzte. Oben angekommen, zückte er seine Fahrkarte, steckte sie in den dafür vorgesehen Metallschlitz und zog sie blitzschnell wieder raus. Die Türen der Absperrung sprangen mit lautem Knall auf, er hindurch, die Türen hinter ihm zu. Aber war er der einzige, der in Green Park an die Oberfläche wollte? Alle anderen kamen ihm auf der Treppe entgegen. Er dachte, er müsse in einem reißenden Fluss gegen den Strom schwimmen. Auf der Straße das gleiche. Wieder strömte alles ihm entgegen.
    Er kämpfte sich Meter für Meter bis zum »Ritz«, bog dort rechts ab. Geschafft! In der Jermyn Street, der Straße der Hemden- und Schuhmacher, wurde es ruhiger. Die ersten Geschäfte waren bereits geschlossen. Willem legte wieder die ihm gemäße Gangart ein, bummelte an den verführerischen Auslagen vorbei und träumte eine Weile von besseren Zeiten.
    Wäre es nicht unbedingt notwendig gewesen, hätte er den Südwesten Londons um diese Tageszeit nicht verlassen. Aber Willem hatte weder Pias aktuelle Telefonnummer, falls sie überhaupt eine hatte, noch ihre aktuelle Adresse. Leute wie Pia zogen in London ständig um. Man wohnte in möblierten Zimmern, mal alleine, mal mit mehreren, packte wieder seine Siebensachen, weil einem ein
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