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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil
Autoren: Holger Wuchold
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hätte bestenfalls ausgereicht, eine Frau in ein Gespräch zu verwickeln, ihre Sympathie zu gewinnen, sie dann aus vorgespielter Höflichkeit nach Hause zu begleiten, um sie dort… Ja, was dort…? Wie weit würde er gehen, um an ihr Geld zu kommen? Würde er sie niederschlagen, fesseln, knebeln, vielleicht sogar töten?
    Willem schaute sich um. Könnte er wirklich eine dieser Frauen töten, die zum Greifen nahe saßen und deren Lebenszweck vor allem darin bestand, auf möglichst vielen Gläsern, Tassen und Zigaretten den Abdruck ihres Lippenstifts zu hinterlassen? Er stellte sich die Frage nicht zum ersten Mal. Er hatte sie sich schon häufig gestellt und immer positiv beantwortet. Die einzige Bedingung war, es müsse kurz und einigermaßen schmerzlos geschehen. Freude am Töten zu empfinden, wäre ihm mit Sicherheit fremd. Die Gewalt wäre nur das unvermeidliche Mittel zu dem Zweck, an das Geld, ihr Geld, das er haben wollte, heranzukommen. Nur darum würde es ihm gehen, nichts anderes.
    Aber was hielt ihn noch ab? Warum beugte er sich nicht etwa zu der gepflegten Frau um die fünfzig am Nachbartisch hinüber? Warum bat er sie nicht um Feuer? Warum verwickelte er sie nicht in eine leichte Konversation? »Schönes Feuerzeug! Ein Dupont, vermute ich«, könnte er zum Beispiel das Gespräch unverbindlich einleiten. Sie würde ihm vielleicht erzählen, unter welchen Umständen das gute Stück in ihre sorgsam manikürten Hände gelangt war. Man könnte sich über Last und Lust des Rauchens austauschen, um dann zu Last und Lust des Lebens im Allgemeinen überzugehen. Von hier aus bis zu ihrem Fünf-Zimmer-Appartement in einem viktorianischen Backsteinblock in Kensington wäre es nur ein Sprung. Es müsste auch nicht sofort sein. Man könnte sich noch ein- oder zweimal beinahe zufällig treffen, zum Lunch bei »Harvey Nichols« zum Beispiel, bevor sich das edle Seidentuch um ihren leider schon etwas faltigen Hals legen würde.
    Er hatte keine moralischen Bedenken. Es hatte andere Gründe, warum er nicht so weit ging, ganz praktische Gründe. Es war kaum anzunehmen, dass in den eleganten Wohnungen dieser Frauen, so wohlhabend sie auch sein mochten, Bargeld gleich stapelweise herumliegen würde. Mit Schmuck, Bildern oder Antiquitäten konnte Willem nichts anfangen. Wo könnte er dergleichen Dinge losschlagen? Nach Abwägen des Für und Wider war ihm das Risiko einfach zu groß.
    Aber Skrupel? Nein, die hatte er nicht. Ein gelungenes Verbrechen war die einzige Möglichkeit, dachte er, die ihm aus seiner vertrackten Lage heraushelfen könnte. Vielleicht war er sogar zum Verbrecher geboren, wie andere zum Metzger, Richter oder Priester, nicht aus Berufung oder Leidenschaft, sondern weil er wie sie nichts anderes konnte.

 
3
     
     
     
    Sein Zimmer maß exakt dreieinhalb mal viereinhalb Meter. Hinzu kamen eine kleine Küche, in der allerdings weder Stuhl noch Tisch Platz hatten, und Bad und Flur. Das war alles. Die linke Wand des Zimmers nahm ein Kleiderschrank mit Schiebetüren ein. Rechts war das Fenster, von dem man auf die hässliche Mehrzweckhalle von Earls Court blickte. Unter dem Fenster stand ein runder Tisch mit drei Stühlen, an der Stirnwand eine Couch, die zu einem Bett umgewandelt werden konnte. Von der Couch aus sah man auf die Tür, neben der auf der rechten Seite ein Regal, auf der linken der Fernseher stand. Die Miete betrug hundertfünfzig Pfund die Woche.
    Willem saß am Tisch und pickte lustlos in einem Teller Spaghetti herum. Ganz gegen seine Gewohnheit gab er sich einem Anfall von Selbstmitleid hin. Warum hatte dieser Hewitt alles und er nichts? Und warum war die halbe Welt auf diesen Schwindler und Hochstapler hereingefallen? Er stand auf und ging in die Küche, wo der Teller mit lautem Getöse in der Spüle landete. Er kam zurück und lief wütend im Zimmer auf und ab, trat gegen die Möbel oder boxte mit seinen Fäusten gegen die Lammellentüren des Kleiderschranks. Dann ging er ins Bad und betrachtete sich eine ganze Weile im Spiegel, ohne eine Antwort zu finden. Zum Ekel war ihm sein Leben, und er ließ seinem Jammer freien Lauf. Seiner Seele Bitternis wollte er in Alkohol ertränken.
    Er verließ das Haus, um eine Flasche Whisky zu kaufen. Sein Haus lag direkt an der Ecke Eardley Crescent und Old Brompton Road, die er in der Dunkelheit hinunterging, am Friedhof vorbei. Er hasste es, hier abends entlang zu laufen, nicht aus Angst, sondern aus Abscheu vor den Gestalten, die sich hier nach Einbruch
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