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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil
Autoren: Holger Wuchold
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Mitbewohner nicht passte oder weil man einfach die Miete nicht mehr zahlen konnte. Eine Meldepflicht wie auf dem bürokratischen Kontinent existierte nicht.
    Willem wechselte auf die linke Straßenseite, ging wieder zum Piccadilly hoch, am »Meridian Hotel« vorbei und dann in die Swallow Street. Hier hoffte William, Pia innerhalb der nächsten halben Stunde abzufangen.
    Er hatte Pia gleich nach seiner Ankunft in London kennen gelernt. Sie arbeitete damals in einem netten kleinen Kellerlokal in Notting Hill, das vor allem Studenten frequentierten. Willem mochte die Jazz-Musik, die dort aufgelegt wurde und ihn an Aufnahmen aus den sechziger Jahren erinnerten. Es war nie viel los. Und die paar Studenten hatten bestenfalls Geld für einen Drink. Für Pia gab es deshalb an der Bar nicht viel zu tun, so dass sie immer Zeit hatte, sich mit Willem zu unterhalten.
    Eines Abends hatte sie Willem ganz unbefangen gefragt, ob sie ein paar Tage bei ihm wohnen könnte. Dass auch er nur in einem Zimmer lebte, störte sie nicht. So kam Pia am selben Abend mit zu ihm und blieb eine Woche. Jeden Abend stieg sie in sein Bett, küsste ihn und schlief in seinen Armen ein. Mehr passierte nicht. Stattdessen erzählte sie ihm alles aus ihrem bislang kurzen Leben.
    Sie war in einer kinderreichen Familie im Süden Spaniens aufgewachsen, hatte sich durch die höhere Schule gequält und war, weil es in ihrer Heimat keine Jobs gab, als Au-pair-Mädchen in England gelandet, in irgendeinem langweiligen Nest im Nordosten. Kaum war sie angekommen, verging sich der Hausherr brutal an ihr. Und die Hausherrin prügelte sie aus dem Haus, als Pia ihr die Vergewaltigung offenbarte. Anschließend floh sie nach London, wo ihr eine spanische Freundin den Kellner-Job verschaffte. Das alles erzählte Pia ihm nicht, um sein Mitleid zu erwecken, sondern um ihm zu zeigen, dass sie bereits eine Frau war, eine Frau, der das Leben nicht mehr viel anhaben konnte.
    Seit das Jazz-Lokal in Notting Hill geschlossen hatte, sahen sie sich selten. Pia arbeitete danach in einem Jeans-Shop in der Oxford Street, die er wegen der Menschenmassen mied. Vor drei oder vier Monaten rief sie überraschend an, wobei sie erwähnte, inzwischen in einem »Herrenclub« als Animier-Mädchen zu arbeiten. »Das ist aber nicht das, was du denkst«, hatte sie halb im Ernst, halb im Scherz gesagt. Willem hatte sich nun vor den »Stork Rooms«, so der Name des Clubs, aufgebaut und wartete.
    »Hey, Will, bist du es wirklich?«
    Willem drehte sich um.
    Das gleiche hätte er zurückfragen können, bekam aber nur heraus: »Pia?!«
    Natürlich war es Pia, die vor ihm stand. Sie sah sehr verändert aus. Insbesondere die rote Perücke irritierte ihn. Und sie roch stark nach einem schweren Parfüm. Sie umarmten sich heftig, Willem weniger aus Freude, sondern um seine Verlegenheit zu überspielen.
    »Bist du zufällig hier? Oder willst du etwa in den Club?«
    »Nein, nein. Ich bin deinetwegen hier, ganz im Ernst. Ich hatte einfach Sehnsucht nach dir«, versuchte Willem Pia zu schmeicheln.
    »Na, dann musst du doch in den Club kommen. Mein Dienst fängt gleich an«, sagte Pia, wobei sie dem Wort »Dienst« eine ironische Färbung gab. »Aber um diese Zeit ist noch nicht viel los. Wir können uns an die Bar setzen und etwas trinken. Komm doch mit! Bitte!«
    Willem hatte diese Art von Etablissement immer verabscheut. Er fand sie schlichtweg unanständig. Er wagte es aber nicht, Pia ihre Bitte abzuschlagen. Schließlich wollte er etwas von ihr.
    Drinnen sah es genauso aus, wie er es sich vorgestellt hatte, billig, dunkel, plüschig, wie in einer heruntergekommenen Siebziger-Jahre-Diskothek, die man mit etwas schwarzer Farbe aufgemöbelt hatte. Pia entschuldigte sich damit, sie müsse sich noch etwas herrichten, und bat ihn, an der Bar zu warten.
    »Ich bin in fünf Minuten wieder da. Bestell etwas auf meine Rechnung!«
    Willem blätterte lustlos die Cocktail-Karte durch und bestellte schließlich einen Negroni. An der Bar saßen zwei grell geschminkte Mädchen, die er abstoßend fand, eine Asiatin und eine Lateinamerikanerin, die indianisch aussah. Sie fixierten ihn. Willem hoffte, dass Pia bald kommen würde. Da kam sie auch schon. Nicht nur die rote Perücke in Form eines Pagenkopfs machte sie strenger und älter, auch ihre Haut. Sie sah gelblich aus wie bei vielen Südeuropäern im Winter. Aber es war kein Winter. Außerdem hatte sie Schatten unter den Augen. Geschminkt hatte sie sich nicht, bis auf den
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