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Seifenblasen kuesst man nicht

Seifenblasen kuesst man nicht

Titel: Seifenblasen kuesst man nicht
Autoren: Elisabeth Herrmann
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sie.
    Das nächste Haus war wieder eines, das passte. Riesig. Erker. Türmchen. Holzbalkone. Englischer Rasen. Tiefgarage für schätzungsweise ein halbes Dutzend Autos. Und natürlich Videokameras und Schilder mit zähnefletschenden Dobermännern über der Aufschrift »Hier wache ich«. Oder »Kalaschnicom Security«. Die Jungens mussten einen Bomben-Job machen, so oft, wie ihre Schilder neben den Kameraaugen an den Eingangstüren angebracht waren.
    Die Villenkolonie Grunewald war so ziemlich die nobelste Ecke Berlins. Leute wie Coralie betraten solche Häuser sowieso nur durch den Dienstboteneingang. Oder sie blieben ganz draußen, steckten Zeitungen in messingpolierte Briefkästen und machten, dass sie weiterkamen, bevor die Hunde und die Brüder Kalaschnicom wach wurden. Manchmal sah Coralie sich in den spiegelnden Fenstern der kleinen Konditorei, wenn sie vorüberradelte. Eine schmale Gestalt in Jeans und T-Shirt, die langen braunen Haare offen oder zu einem Pferdeschwanz gebunden, ein bisschen müde und glücklicherweise schnell genug vorüber, um sich nicht länger anschauen zu müssen.
    Sie fand sich ganz okay. Ja, das war wohl der Eindruck, den sie von sich selbst hatte. Ganz okay. Großartig, phänomenal, cool, abgefahren … Das waren meistens die anderen. Aber es gab Momente in Coralies Leben, in denen sie sich so fühlte, als ob sie die Welt aus den Angeln heben könnte: beim Tanzen. Dafür lebte sie. Dafür lohnte es sich, um drei Uhr nachts aufzustehen. Es war Glück pur. Nicht denken, nur fühlen. Alles rauslassen. Sie hätte nie geglaubt, dass ihr das einmal so wichtig werden würde. Die anderen aus ihrer Klasse liebten Kino, Chatten, Clubs, Klamotten … Sie liebte Tanzen.
    Mit drei hatte sie ihre erste kleine Rolle im Kinderballett gehabt. Und jetzt, mit siebzehn, stand sie kurz vor dem Erreichen ihres ganz großen Traums: eine Wild Card für Khaleds Dance-Academy-Workshop in London zu bekommen. Die Auswahlkriterien waren die schärfsten, die es gab. Aber Khaled hatte bereits mit den Crews von Nicki Minaj, Two Doors Cinema Club und Flo Rida gearbeitet. Seine Choreografien waren die heißesten, und die Stars rissen sich darum, ihre Tänzer – und wohl auch sich selbst, flüsterte man – von ihm coachen zu lassen. Für Coralie war Khaled einfach der Größte. Sie träumte davon, dabei zu sein. Einen anderen Traum hatte sie nicht. Wollte sie nicht. Gab es nicht. Immer noch besser als gar kein Traum.
    Aber der Workshop kostete Geld. Und London war teuer. Und deshalb radelte sie seit Anfang der Woche die stillen Straßen des Grunewalds ab, um den Menschen die neuesten Nachrichten druckfrisch zum Morgenkaffee zu liefern.
    Nach einer Stunde war Coralie fertig mit ihrer Runde. Es war zehn nach sechs. Langsam erwachte die Stadt. Auf dem Rückweg zur S-Bahn kamen ihr erste Pendler entgegen. Putzfrauen, Sekretärinnen, Chauffeure, alle auf dem Weg in eine dieser hochherrschaftlichen Villen. Deren Bewohner verließen selten so früh ihr Haus. Wenn doch, dann glitten die schweren Stahltore lautlos zur Seite, und dunkle Limousinen mit getönten Scheiben rollten langsam, man beachte das Wort: langsam!, auf die Kopfsteinpflasterstraße. Oder es waren riesige Geländewagen, hinter den Seitenscheiben die verschlafenen Gesichter von kleinen Kindern, die in den Hort gebracht wurden.
    Hey, I just met you, and this is crazy
    But here’s my number, so call me maybe
    It’s hard to look right, at you baby
    But here’s my number, so call me maybe …
    Schon von Weitem hörte sie den Gesang. Eigentlich mochte Coralie die Lieder, die dieser Typ, der aussah wie ein vergessener Informatik-Student, jeden Morgen voller Inbrunst sang. Aber sie hatte sie zu oft gehört und in seiner Version wurden sie auch nicht besser. Trotzdem kramte sie ein 50-Cent-Stück hervor. Ein Euro war einfach zu viel und zu schwer verdient. In seinem Hut lagen nur ein paar kleine Geldstücke. Wahrscheinlich war es viel zu früh für Musik. Vor allem in dieser Ecke.
    Call me maybe …
    Er bedankte sich mit einem Grinsen, klampfte weiter auf seiner Wandergitarre und wies mit einem kleinen Nicken auf eine Telefonnummer, die er mit Kreide an die Wand geschrieben hatte.
    Â»Träum weiter!«
    Coralie schaffte in letzter Sekunde die S-Bahn um sechs Uhr vierzehn und plumpste mit einem Aufatmen in die letzte Bank.
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