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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz
Autoren: Federica de Cesco
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Haut, den Zähnen, weiß und gesund, entsprach er völlig meiner Vorstellung von Dionysos: ein heiterer Götterknabe, eine Gestalt aus einer archaischen Welt, voller Jugend, Leben und Licht. Er gab nicht viel auf Rhetorik, war jedoch vielseitig interessiert und lief vor künstlerischen Abstraktionen nicht davon. Er wollte wissen, wie ich arbeitete.
    Ich erklärte es ihm.
    »Die Atmungstechnik steht bei mir im Vordergrund. Mich interessiert das Zusammenspiel von Tanz und Gesang. Ich meine, eine Tänzerin sollte nicht nur stumm sein, sondern ihre Stimmbänder einsetzen.«
    »Singst du beim Tanzen?«
    »Nein, eigentlich nicht. Ich produziere Töne. Manchmal hört es sich wie Gesang an. Aber es ist eher ein Klangablauf, der sich mit den Bewegungen vollzieht.«
    »Das interessiert mich. Wo wohnst du?«
    »In Lausanne. Ich habe dort ein Studio.«
    »Kann ich dich mal besuchen?«
    Sein Mund mit der Narbe war etwas feucht, wie eine Frucht.
    Ich hätte ihn gerne in die Lippen gebissen. An diesem Abend kam es nicht dazu. Er war mit einem Mädchen verabredet, und ich fuhr am nächsten Tag in die Schweiz zurück. Ich gab ihm meine Adresse – weg war er. Ich dachte, Scheiße, da habe ich etwas verpaßt. Drei Wochen später klopfte es morgens früh um acht, als Alwin und ich beim Training waren. Alwin ging an die Tür. Ich hörte ein Stimmengemurmel; der Luftzug brachte einen Geruch, der mir vertraut vorkam. Im Spiegel erblickte ich einen schwarzgelockten jungen Mann mit einer Gitarre. Er nickte mir zu, ließ die Sandalen von den Füßen gleiten und setzte sich lautlos. Sein Instrument legte er neben sich auf den Boden.
    Ich war für den November für drei Vorstellungen im »Théâ-
    tre de Poche« verpflichtet worden und probte gerade eine neue Choreographie. »Die Entpuppung« war ein Stück über die Befreiung der Frau, ein Thema, das ich nüchtern und distanziert anging. Die Gefahr, weibliche Duldsamkeit mit Einfalt zu verwechseln, lag bei mir immer drin. Aber Frauen können Schmerzen überzeugend darstellen, auch wenn sie diese Schmerzen niemals am eigenen Körper empfunden haben.
    »Sie sind genetisch dazu vorprogrammiert«, sagte Lea, die in gewissen Dingen zynisch war. »Die kollektive Erinnerung steckt in jeder Zelle. Du kannst diesen Schmerz der Jahrhunderte herausholen, ihn sichtbar werden lassen. Du brauchst nicht einmal viel Konzentration dazu.«
    An diesem Morgen arbeiteten wir ohne Musik. Während ich vor dem Spiegel übte, bemerkte ich, wie Pierre sich behutsam bewegte. Er stimmte einige Akkorde auf seiner Gitarre und begann zu spielen, zuerst elegisch und versunken, dann explosionsartig und strahlend. Der volle, sinnliche Klang zog mich in eine Stimmung hinein, die meinen innersten Kern ergriff und mitschwingen ließ, so daß ich eine Zeitlang ganz ekstatisch tanzte.
    Nach der Probe umarmten wir uns. Ich lachte ihn an.
    »Schön, daß du gekommen bist.«
    »Ich war neugierig.«
    Alwin steckte die Kaffeemaschine an. Ich beugte mich über das Spülbecken, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, ließ es über die Arme laufen. Pierre sagte: »Es hört sich seltsam an, was du mit deiner Stimme machst.«
    Ich tastete nach dem Handtuch.
    »An einem Tag gewöhnt man sich nicht daran. Aber morgen wirst du dich schon daran gewöhnt haben.«
    »Bestimmt«, sagte er.
    Ich trocknete mich ab.
    » Man kann das Tanzen mit allem möglichen verbinden, was?«
    »O ja«, erwiderte er, »das kann man. Vielleicht gewöhnst du dich an meine Musik.«
    »Vielleicht.«
    Wir sahen uns an; Alwin fing diesen Blick auf und schwieg.
    Der Kaffee blubberte in der Maschine. Alwin stellte wortlos drei Tassen auf den Tisch, holte Zucker aus dem Schrank.
    »Deswegen bin ich gekommen«, sagte Pierre. »Weil ich das Gefühl hatte, daß du dich an meine Musik gewöhnen kannst. Ist bisher noch nie jemand auf die Idee gekommen?«
    Ich goß Kaffee ein.
    »Von Zeit zu Zeit gab es Anwärter.«
    An diesem Abend schliefen wir zusammen. Alwin schleppte seine Matratze in den Übungsraum. Er erhob nie Einspruch, wenn ich mich für einen anderen Mann interessierte. Er fürchtete lediglich, daß es Pierre mißfiel, wenn er im selben Zimmer blieb. Nach ein paar Nächten wurde ihm klar, daß Pierre sich nicht daran störte, und schob seine Matratze wieder an den alten Platz.
    Im Traum oder auch wachend, tagsüber, wenn ich mich nicht konzentrieren konnte, hatte ich an Pierres Körper gedacht. Den ich nun in dieser Nacht, mit eigenen Händen, in Besitz nahm.
    Ich
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