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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz
Autoren: Federica de Cesco
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Bauprojekte verschwanden in den Schubladen, die Künstler nahmen von dem Viertel Besitz. Provokative Graffiti bedeckten die Wände, große Lagerräume wurden als »Lofts« eingerichtet.
    Alternative Boutiquen und schrille Nachtklubs fanden im
    »Flon« eine vorläufig dauerhafte Bleibe. Im »Flon« hatte ich bekommen, was ich suchte: zwei Zimmer, eines davon groß genug, daß wir es als Übungs- und Requisitenraum benutzen konnten. Ich hatte eine große Spiegelwand angebracht. Das Haus war verkommen, aber nicht zerfallen. Im Erdgeschoß hatte ein Kleidergrossist sein Lager, in der erste Etage war die Werkstatt eines Glasmalers. Die Wohnung hatte große Fenster, eine Decke mit Stuckverzierungen und einen wundervollen, honigfarbenen Parkettfußboden, glatt wie Seide. Die Möbel hatten wir auf dem Flohmarkt erstanden. Wir schliefen auf Matratzen, die wir tagsüber mit einer Berberdecke in eine Couch verwandelten. Dusche und Toilette lagen eine Etage tiefer und waren im Winter eiskalt. Die Kücheneinrichtung war dürftig, wir benutzten den Spülstein auch als Waschgelegen-heit. Wir besaßen einen kleinen Gaskocher, einen Eisschrank, etwas Geschirr und eine Kaffeemaschine. Im Winter schalteten wir den elektrischen Heizofen an, im Sommer sorgten die Fenster für genügend Durchzug.
    »Künstler leben genügsam«, meinte Pierre und grinste. »Es ist ein Privileg, nichts zu besitzen. Ich bin gegen alles, was zum Atmen nicht nötig ist und den Körper nicht freimacht.«
    Pierre de Morane. Früher: Paris, die Haute Bourgeoisie. Sein Vater leitete ein Chemieunternehmen. Seine Schwester Aline, ein ehemaliges Fotomodell, hatte einen arrivierten Politiker geheiratet – einen korrupten Gesellen, wie Pierre sagte. Er selbst wollte studieren. Geschichte, Griechisch, Französisch.
    Und Professor an der Sorbonne werden, wie der Bruder seiner Mutter, der auch Pierre hieß. Nach sechs Monaten wußte er, daß er dort nichts zu suchen hatte. Er wurde Journalist bei »Li-bération«. Nicht sehr lange, dann ging er auf Reisen. In Madrid lernte er Paco de Lucia kennen, der ihm eine Gitarre in die Hand drückte und ihn üben ließ. Die nächste Etappe war Nord-afrika. Über die Türkei, Iran und Pakistan trampte er nach Indien. Dort lernte er, wie man die Sitar spielt, ein Saiteninstrument, das an Kompliziertheit und Tonfülle mit der Orgel ver-glichen wird. Er lernte auch, wie die »Talas« – die Rhythmen –
    auf der Doppeltrommel erzeugt werden. Er verdiente etwas Geld, indem er für einen erkrankten französischen Diplomaten in Bombay Urkunden in den Computer speicherte. In Japan lebte er ein halbes Jahr in einem Kloster – ohne Heiligenschein, wie er betonte – und konzentrierte sich auf das Flötenspiel. Als Kind mußte Pierre Klavierstunden nehmen; er hatte eine solide Abneigung gegen dieses Instrument entwickelt und die Nerven etlicher Lehrerinnen strapaziert. Erst die fremden Klangarten sprachen bei ihm eine seelische Schicht an, die seine ursprüngliche Begabung ans Tageslicht brachte. Ohrenbeschwerden, unter denen er seit seiner Schulzeit gelitten hatte, verschwanden. Pierre war nie ungeduldig gewesen, er hatte das nicht nötig. Er bekam alles, was er wollte, ihm fiel das Glück ganz mühelos in den Schoß. Die Frauen waren verrückt nach ihm.
    Da er jedoch klug war, ließ ihn Firlefanz kalt.
    »Das wichtigste war die neue Kraft, die ich in mir spürte.«
    Wie man eine Partitur liest, hatte er längst vergessen. Er beherrschte jedes Instrument, das er spielen wollte – das Klavier ausgenommen –, stand fest auf Improvisation und ging in seinen Freiheiten bis an die Grenzen der Effekthascherei.
    Ich hatte Pierre in Avignon kennengelernt, während des Tanzfestivals. Wir saßen vor dem »Palais Neuf«, auf den warmen Steinstufen, schleckten Nougateis und unterhielten uns.
    Eine kleine Narbe ging quer durch seine Oberlippe. Die Art, wie er die Zungenspitze über das Eis gleiten ließ, war sehr aufregend. Ich starrte ihn unentwegt an. Er sprach von seiner Musik, ich von meinem Tanz.
    »Ich trete als Solistin auf. Oder mit einem Partner, wenn ich gut mit ihm auskomme. Ich war mal in einem Ensemble. Ein Jahr lang. Dann war ich plötzlich nicht mehr da. Stell dir mal dreißig Leute vor – alle mit Seelenzuständen.«
    »Du siehst nicht aus wie eine Frau, die das aushält.«
    »Nein.«
    Meine Augen ließen nicht von ihm ab. Es regt mich physisch auf, etwas Schönes zu sehen. Mit seinen Locken, blauschwarz wie Trauben, seiner dunklen
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