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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz
Autoren: Federica de Cesco
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konkretisieren, in den Handlungsablauf bringen, ein Gefühl darstellen, das alles enthielt. In der Hand hielt ich ein Knäuel weißer, lockerer Wolle. Diese Sache hatte ich vorher nicht geprobt; ich hatte den Behinderten nur den Faden gezeigt und erklärt, was ich damit machen würde. Ich dachte, mal sehen, wie sie reagieren, und ließ es darauf ankommen. Und so ging ich nun von einem zum anderen und knotete ganz behutsam die Wolle um das Handgelenk eines Gesunden und um das Handgelenk eines Kranken.
    Zum Klang der Flöte bewegte ich mich völlig geräuschlos, wie im Traum. Und das Wunder geschah: Auf den Gesichtern spiegelte sich die Erkenntnis. Einige Kranke lächelten, ihre Augen leuchteten. Andere zuckten vor Erregung, lachten wie übermü-
    tige Kinder, stießen unartikulierte Laute aus. Ein Mann schluchzte laut, als ich sein Handgelenk mit dem einer jungen Frau im Rollstuhl verband. Die Gäste standen da, wortlos und ergriffen; manche lächelten den Behinderten zu, ein paar weinten still vor sich hin, während der weiße Faden sein Wunderge-bilde aus Liebe webte, von Mensch zu Mensch die Idee vermit-telte: Wir sind alle gleich.
    Plötzlich und unerwartet schwieg die Flöte. Es entstand eine kleine Pause, doch die Gäste unterhielten sich nur flüsternd, noch halb benommen von der Verzauberung, der sie sich hin-gegeben hatten, bemüht, ihr Bewußtsein in die Wirklichkeit zurückzuführen. Erschöpft und aufgeregt, glanzäugig noch von der Verzückung, spielten die Behinderten mit den Wollfäden.
    Inzwischen legte Pierre eine Kassette auf: Vivaldis »Winter«
    brach in Kaskaden von Eisperlen die Stille. Maria wiegte eine Puppe aus Zelluloid in den Armen. Josef preßte unbeholfen den Bart an sein Kinn. Die drei Könige stolperten über die Falten ihres Umhangs. In überschwenglicher Freude, hüpfend und tanzend, führten die Hirten den heiligen Reigen an, den Reigen um das Herz der Welt.
    1. Kapitel
    D ie zahllosen Betrachtungen, die ich über Alwin im Laufe unserer gemeinsamen Proben und Arbeiten anstellte, liefen immer auf die gleiche Schlußfolgerung heraus: Er war unsagbar geduldig. Alwin, vier Jahre jünger als ich, hatte einen angebo-renen Hang zum Devoten, was sich in seiner Haltung mit den auf dem Rücken verschränkten Händen ausdrückte. Er war für mich eine lebende Puppe, eine blonde Wachsfigur, die ich drehte und wendete und formte. Im Bett war es dann manchmal ähnlich, aber das störte weder ihn noch mich. Wer mit dem Körper arbeitet und seine Beschaffenheit kennt, wer gelernt hat, wie das Fleisch selbst, aus jeder Zelle heraus, eine Art Intelligenz entwickelt, dem kommt das übliche Rollenverhalten so unsinnig und langweilig vor, daß er es am besten gar nicht beachtet. Konventionen waren mir schon als Kind verhaßt – ein Grund, warum ich zweimal von der Schule flog. Alwin, in seiner sanften Art, teilte diese Auffassung, und so wohnten wir eine Zeitlang in einer schwebenden, mühelosen Welt. Als Pierre dazu kam, entstand eine kurze Phase der Unaufrichtigkeit.
    Aber ich war stets eine, die durch das Netz schlüpfte.
    Alwin Vogt stammte aus Den Haag. Seine Mutter war Phy-siotherapeutin, sein Vater Ingenieur. Er hatte noch zwei ältere Brüder. Als Kind war er zu schnell gewachsen und oft krank gewesen. Die Mutter wollte, daß er Sport trieb. Beide Brüder waren in der Fußballmannschaft. Alwin hatte für Gruppensport nichts übrig. Eine Freundin der Mutter war Ballettlehrerin und nahm ihn in den Unterricht. Alwin tanzte fünfmal in der Woche, nach Schulschluß. Er hatte eine gute Körperbeherrschung, war schnell und beweglich, hatte ein hübsches Pagengesicht.
    Irgendwann kam ihm der Gedanke, daß das Tanzen ein Beruf sein könnte. Ein paar Jahre auf den Brettern, dann würde er Sportmedizin studieren, das war das Richtige für ihn. Er liebte die Kulissen, diese Scheinwelt aus kreidigem Licht und tiefen Schatten, die geheimnisvolle Weite der Bühne, in der sich der Mensch in anderer Gestalt begegnet. Er gab das Studium auf, fand eine Truppe in Basel, deren Repertoire ihm lag und die gerade einen Tänzer brauchte. Dort blieb er ein paar Monate –
    lange genug, um zu merken, daß er in einem Ensemble als störendes Element auffiel. Er sah zu alters- und geschlechtslos aus, seine körperliche Präsenz war zu eigenwillig. Dazu gab ihm sein technisches Niveau als Solist wenig Chancen. Die Muskeln auszubilden, auf die es ankam, fiel ihm schwer. Eine Zeitlang fühlte er sich ausgestoßen, schluckte
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