Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
Ecstasy und wurde immer dünner, bevor er seine Begabung für die Pantomime entdeckte. Er fuhr ins Tessin und nahm Stunden bei Di-mitri. Im Gestisch-Mimischen fand er endlich das, was er suchte: eine sichtbar gewordene Zeichensprache der Gefühle, eine Kunst absoluter Hingabe, klösterlich und total.
    Meine erste Begegnung mit ihm war in Lausanne, beim »Festival de la Cité«. Alwin inszenierte eine Freiluft-Aufführung.
    Weißgekleidet und kalkig geschminkt, spielte er den Jean-Gaspard Deburau, bewegte er sich unter dem nächtlichen Himmel wie ein Geist. Ich trat im »Théâtre de Poche« als Per-sephone auf. Ich trug ein purpurnes Gewand, mit golddurch-wirkten Falbeln, und einen Schnürleib. Die Spitzen meiner Brüste waren rot gefärbt. Nach der Vorstellung kam Alwin zu mir.
    »Als ich dich auf der Bühne sah, brauchte ich ziemlich lange, bis ich merkte, daß dieser seltsame Gesang, diese Tonfolge, aus deinem Mund kam. Du lagst auf dem Boden oder drehtest den Zuschauern den Rücken zu, ich konnte nicht sehen, daß sich deine Lippen bewegten.«
    »Ich bewege kaum die Lippen.«
    »Ja, ich weiß. Du hast eine besondere Methode.«
    Alwin wollte, daß ich ihn unterrichtete. Ich willigte ein, nahm ihn ziemlich hart in die Zange. Alwins weiße Haut, sein schimmerndes Haar, seine Eleganz machten ihn zu einer wundervollen Bühnenfigur. Sein schwacher Punkt war seine Verträumtheit, die dem Eigensinn eines Kindes sehr nahe kam. In all seiner Sanftheit konnte er störrisch wie ein Bock sein.
    »Alwin, ich habe es satt, mir den Mund fusselig zu reden.
    Fährt ein Moped vorbei, bist du abgelenkt. Du mußt die Au-
    ßenwelt vergessen. Es genügt, daß du es willst.«
    »Ich verstehe«, sagte Alwin, der gar nichts verstand.
    Er lächelte mit klarem, ernstem Blick. Wie ein Engel sah er aus, geschmeidig und das Haar fast silbern. Ein Engel, dem ich die Hüftspirale beibrachte.
    »Also los!«
    Er tat, was ich wollte; er tat es gewissenhaft. Ich arbeitete viel mit »tiefem Gehen«. Da erfährt man am besten die Länge und Dehnbarkeit der Muskeln. Eine Auswärtsdrehung, die, wenn sie langsam ausgeführt wird, an den langen, schleichen-den Gang einer Katze erinnert. Alwin war gut in diesen Dingen; seine Bewegungen waren flüssig, aber nicht sinnlich.
    Alwin war kein sinnlicher Mensch; er hatte, trotz seiner 23
    Jahre, die erotische Ambivalenz eines Kindes. Nicht, daß er impotent gewesen wäre, keineswegs, aber er benutzte seinen Körper in diesen Dingen rein mechanisch. Er hätte Mönch sein können. Gott begegnete er in vielerlei Gestalten; eine davon war ich, aber das gestand er mir erst später.
    Im Prinzip arbeiten die Tänzer mit nach außen gedrehten Beinknochen; ich übte lieber mit gespreizten Zehen, die Knie geöffnet. Eine Negation des klassischen Balletts.
    »Stell dir vor, du bist ein Körper, am Boden festgeklebt. Du willst mit aller Leidenschaft auf die Beine kommen. Du wehrst dich gegen die Elemente, den Sturm, die Wasserströmung.
    Kämpfe! Richte dich auf!«
    Er versuchte es; manchmal gelang es ihm, den Rhythmus zu finden. Das war wunderschön, das konnten nur die wenigsten.
    Gleichwohl gestand er mir, daß er oft seine Haut wie eine Mauer empfand.
    »Weißt du, Ruth, das macht mir Kummer. Ich möchte auch innerlich schön sein. Was aber drückt der Körper aus? Und was ist innere Schönheit?«
    Ich beantwortete seine Frage ziemlich schroff.
    »Der Körper ist kein Instrument der inneren Schönheit. Der Körper zeigt Grausamkeit.«
    Meine Mutter hatte über dieses Gespräch sehr gelacht.
    »Der Ärmste! Er tappt im dunkeln herum.«
    »Ich habe eine Taschenlampe.«
    »Bist du eigentlich in ihn verliebt?«
    Jetzt war es an mir gewesen, zu lachen.
    »Siehst du, Lea, wenn ich in jemanden verliebt sein müßte, dann vielleicht in Pierre.«
    Von Lausanne und seinen Hügeln schweift der Blick über den Genfer See: eine Postkartenlandschaft. Die Stadt, mit ihren Buckeln, Treppen, Vertiefungen ist nicht unbedingt schön –
    dafür liegt alles in Reichweite. Im Zentrum führen zwei Brük-ken über eine Gegend, die hier als ungewöhnlich auffällt. Es ist der »Flon«, ein ehemaliges Industrie-, Fracht- und Lagerviertel mit Eisenbahngleisen. Später hatten sich dort Druckereien und Fabriken angesiedelt. In den achtziger Jahren entwickelte die Stadtverwaltung kostspielige Projekte: Man wollte die alten Lagerhäuser abreißen, den »Flon« in ein elegantes Wohn- und Geschäftsviertel verwandeln. Doch dann kam die Rezession: Die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher