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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz
Autoren: Federica de Cesco
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mehr. Oben hing ein Bus… er hängt jetzt noch da. Als ich hinsah, fiel ein Körper hinunter. Rohre waren geplatzt, ich stand bis zu den Knöcheln im Wasser. Dann hörte ich, wie Mama mich rief. Sie war ganz in der Nähe, aber ich konnte sie nicht sehen. Ich suchte sie in den Trümmern, bis ich merkte, daß sie zwischen der Mauer und dem Betonklotz eingeklemmt war… «
    Seine Stimme brach. Er zog die Knie bis unter sein Kinn, vor Schmerzen geschüttelt. Ich sah den kindlichen Nacken, das verklebte, wirre Haar; meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich öffnete meinen Rucksack, gab Seiji einen warmen Pullover und Wollsocken. Schokolade und Trockenobst brachten ihn wieder etwas zu Kräften. Inzwischen ging Kunio vorsichtig an den Pfeiler heran. Im Schein der Taschenlampe untersuchte er rund um die gewaltige Betonmasse den Boden. Die Hauswand gab manchmal ein sirrendes Geräusch von sich; dann rieselte Mörtel mit leisem Prasseln herab. Ich trat behutsam neben Kunio.
    »Nun?« fragte ich matt.
    Er holte gepreßt Luft.
    »Der Block senkt sich. Ganz allmählich, zentimeterweise.
    Aber die Mauer wird dem Druck nicht mehr lange standhal-ten.«
    »Wie lange noch, Kunio?«
    Er rieb sich müde die Schläfen.
    »Ein paar Stunden, nehme ich an.«
    »Bis morgen früh?«
    »Vielleicht.«
    Eine plötzliche Schwäche, ein Grauen überfielen mich. Ich knirschte mit den Zähnen, unterdrückte das heftige Verlangen, mich an Kunio zu klammern und wie eine Wahnsinnige zu schreien. Wind und Feuer wirbelten leuchtende Flächen empor, die roten Schattierungen erstreckten sich endlos, endlos in alle vier Himmelsrichtungen. Endlich hatte ich mich wieder gefaßt.
    Leise genug, damit Seiji es nicht hören konnte, fragte ich:
    »Gibt es nichts, was wir tun können?«
    Er schüttelte wortlos den Kopf.
    54. Kapitel
    D er Wind blies stärker. Unter der eingestürzten Autobahn flackerten die Flammen, züngelten durch Laub und Unterholz und loderten gelb empor. Die Rauchsäulen verdichteten sich.
    Die Flammen fraßen sich über den Hang, im weiten Umkreis flimmerte die Hitze. Der Himmel unter den dunklen Wolken leuchtete wie Karmesin, die Steine, die Bäume lohten in roter Glut auf. Nur dort, wo die Feuer tagsüber gebrannt hatten, hielten Schneisen die Flammen eine Zeitlang auf.
    »Warum setzen sie keine Hubschrauber ein?« fragte ich Kunio.
    »Wegen der Hochspannungsleitungen. Sie können hier nachts nicht fliegen. Und die Wasserversorgung ist abgeschnitten.«
    Aus dem gläsernroten Licht kam ein platzendes Geräusch: Ein Baum zersprühte in einer Funkengarbe. Es war nicht so, daß ich träumte. Die Welt stand in Flammen, zog uns in ihren erstickenden Kreis.
    »Kunio, das Feuer kommt näher.«
    »Ja«, erwiderte er und sah an mir vorbei in die Glut.
    Seiji schlief, an meinen Rucksack gelehnt. Ich nahm die Decke und wickelte ihn behutsam darin ein. Mitten in der Bewegung hielt ich inne, mir war, als ob ich einen Ruf vernahm, aber so leise, daß ich für den Bruchteil einer Sekunde zweifelte, ob ich überhaupt etwas gehört hatte. Doch Kunio hatte ihn auch gehört. Wir blickten rasch umher, mit angehaltenem Atem. Im gleichen Augenblick wiederholte sich der Ruf: er kam aus einer vorspringenden Kante, hinter dem Betonpfeiler. Mein Mund war trocken, daß mir die Zunge am Gaumen klebenblieb. In der Magengrube hatte ich das Gefühl, daß ich kalt wurde, kalt wie die Luft. Die Beine gaben unter mir nach, ich fiel auf Hände und Knie. Der Boden war voller Glas und Holzsplitter, die kratzten und stachen.
    »Naomi?«
    »Ruth?« Ich legte mein Gesicht dicht an den Schutt, mit Beinen und Ellbogen das eigene Gewicht stützend.
    »Naomi? Kannst du mich hören?«
    »Bist du es, Ruth?«
    Die Stimme drang aus dem Boden, während Holz und Steine kaum merklich schwankten. Irgendwo neben dem Betonklotz mußte die Höhlung sein, aus der sie Luft schöpfte.
    In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so verzweifelt gefühlt. Ich zitterte am ganzen Körper, es wollte kein Ende nehmen. Ich preßte die Lippen zusammen, daß es schmerzte.
    Beherrschte mich. Sprach ruhig.
    »Ja, ich bin da, mit Kunio.«
    »Wo ist Seiji?«
    »Er schläft. Wir warten auf die Rettungsleute. Sie kommen mit einem Kran. «
    »Wann?«
    Mein Blick begegnete Kunios Blick. Ich schüttelte den Kopf, unfähig, ein weiteres Wort über die Lippen zu bringen. Kunio antwortete an meiner Stelle.
    »Naomi? Mach dir keine Sorgen. Sie werden bald da sein.«
    »Ich kann nicht mehr lange warten.«
    In mir
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