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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz
Autoren: Federica de Cesco
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Ret-tungsdienst schwenkten Leuchtstäbe. Wir rannten weiter, bis klare, kühle Luft unsere Lungen füllte. Dann blieben wir rö-
    chelnd stehen, drehten uns von den Scheinwerfern weg, sahen in entgegengesetzter Richtung, gerade als die zweite Explosion den Boden erschütterte. Das Autobuswrack, das auf der zerstückelten Autobahn über dem Abgrund hing, löste sich vom abgebrochenen Rand und stürzte in die Tiefe, hinein in das Flammenmeer.
    55. Kapitel
    A m Bahnhof von Nara hatten der Mann und der Junge ihr Gepäck in ein Schließfach gestellt und den Autobus nach Miwa genommen. Die Fahrt dauerte zwanzig Minuten. Im Dorfzen-trum waren sie ausgestiegen und wanderten jetzt entlang der Reisfelder dem Berg entgegen. Der Mann, hochgewachsen und überschlank, war blaß, mit eingefallenen Wangen. Das kurzge-schnittene Haar betonte seine schöne Kopfform. Die Augen waren mandelförmig und groß, mit einem Hauch von Schwermut. Er trug ein Stirnband, blau und weiß gemustert, und einen Jogginganzug mit einer Gürteltasche. Der Junge neben ihm sah düster und verschlossen aus. Zwischen den dunklen Augen, die aller Lebendigkeit beraubt schienen, zeigte sich eine strenge Falte. Sein zerzaustes Haar war mit rotgefärbten Strähnen durchzogen, die langsam herauswuchsen. Der Reißverschluß seiner Lederjacke blinkte im fahlen Sonnenschein, und die klobigen Schuhe, die in diesem Frühjahr modern waren, zwangen ihn zu einem schwerfälligen Stapfen. Sie kamen durch eine Landschaft aus Feldern und Obstgärten, in denen das erste Laub schon Knospen zeigte. Die Pflaumenblüte hatte begonnen. Die schneeweiße, zarte Pracht trotzte dem scharfen Früh-lingswind. Am Ende der Straße leuchtete das Dach des Schreins, und gleich davor standen zwei Häuser, ein altes und ein neues. Der Hund, der vor seiner Hütte döste, zerrte bellend an der Leine. Ich öffnete das Tor, während Kunio den Hund beruhigte.
    »Haben Sie eine gute Reise gehabt, Keita-San?«
    Der Mann deutete eine Verbeugung an.
    »Ja, danke. Es ist noch etwas kalt, ne?«
    »Wie geht es dir?« fragte ich Seiji, mit schwachem Lächeln.
    »Ach, ganz gut«, erwiderte er, meinem Blick ausweichend.
    Sie zogen ihre Schuhe aus, betraten den großen Raum mit der glänzenden Holztäfelung, den prachtvollen alten Schwertern auf den lackierten Ständern. Still ließen beide ihre Blicke umherwandern. Neben der Tür, in Augenhöhe, hing ein grober, leinenartiger Stoff, mit einer violetten Ranke bedruckt. Das emporschwingende, wuchtige Muster strahlte eine seltsame Kraft aus. Seiji wandte sich mit schroffer Bewegung an seinen Vater.
    »Das hat meine Großmutter gemacht. Die anderen sind alle weg. Und ich habe nichts mehr von ihr.«
    Seine Lippen waren fest zusammengepreßt, doch gelang es ihm nicht, ein Zittern zu verbergen. Dies zu sehen tat mir weh.
    Der Thermoskrug mit dem Tee stand schon auf dem Tisch. Ich brachte die Becher und stellte einen Teller mit Süßigkeiten vor Seiji, der mit finsterem Gesicht ein Dankeswort murmelte.
    Kunio schraubte den Thermoskrug auf und füllte die Becher.
    »Wie steht es mit Ihrer Gesundheit, Keita-San?«
    Er saß kerzengerade und räusperte sich.
    »Danke, es geht mir gut. Ich… ich wurde vor zehn Tagen aus der Klinik entlassen. Wir gehen nach Osaka. Ich werde dort ein Tanzstudio leiten. Und Seiji muß wieder in die Schule. Wir wollten nur kurz vorbeikommen, um uns zu bedanken. Seiji schuldet Ihnen sein Leben. «
    Ich biß mir auf die Lippen, und Kunio sagte voller Bitterkeit:
    »Aber für Naomi konnten wir nichts tun. Wir mußten sie dem Tod überlassen. Das bedrückt uns sehr.«
    Keita schüttelte heftig den Kopf.
    »Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Niemals! Sie haben sich in größte Gefahr gebracht, um bei ihr zu sein, bis zum Schluß. Sie hat Ihnen Seiji anvertraut. Der unendliche Trost, den sie von Ihnen erbeten und erhalten hat, half ihr, in Frieden zu sterben… «
    Ein tiefer Seufzer hob seine Brust. Er warf einen Blick auf seinen Sohn, der unbehaglich hin und her rückte.
    »Seiji sagte mir, daß Naomi… als es zu Ende ging… gesungen hat. Er hat die Worte nicht verstanden. Und er möchte gerne wissen… «
    »Es war ein Gedicht von Louis Aragon«, sagte ich.
    Leise formte mein Mund die Worte:
    »Meine Liebe, meine schöne Liebe, meine Wunde, ich trage dich in mir, wie ein verletzter Vogel. Zeit, das Leben zu lernen, und es ist schon zu spät, jetzt beweine ich im Dunkeln meine verlorene Liebe… «
    Keita sag ganz still,
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