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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz
Autoren: Federica de Cesco
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war ein Klopfen, als ob mein Herz nicht in der Brust, sondern in beiden Schläfen pochte. Ich stieß die Worte hervor.
    »Sei ruhig, Du wirst schon sehen, alles wird gut. Bist du verletzt?«
    »Nichts schlimmes. Aber… der Pfeiler zerdrückt mich.«
    »Die Wand steht fest. Sie wird den Druck aushalten.«
    »Der Beton sackt ab, Ruth. Vorher konnte ich den Kopf heben. Jetzt nicht mehr… «
    Nichts konnte unseren Schmerz, unsere Verzweiflung ver-ringern. Sie starb. Sie starb in unserer Gegenwart und wir konnten ihr nicht helfen.
    »Kannst du nicht… etwas tiefer rutschen?«
    »Kaum noch.«
    »Hast du Durst?« fragte Kunio, der mit der Taschenlampe leuchtete.
    »Ja… großen Durst.« Naomis Worte kamen stockend.
    »Ich… ich versuche seit Stunden, das Loch größer zu machen.
    Vielleicht schaffe ich es, die Hand herauszustrecken.«
    »Wir graben von außen«, sagte Kunio. »Wo?«
    »Warte…«, ihre Stimme klang matt. »Ich muß… den Arm drehen… Es dauert… lange.«
    Ein paar Atemzüge lang herrschte Stille. Ich spürte, wie sie sich zu bewegen versuchte, in ihrer entsetzlichen unmöglichen Lage den Ellbogen zu drehen. Dann hörten wir, in der Nähe unserer Knie, ein kratzendes Geräusch.
    »Hier!« rief ich atemlos.
    Kunio drückte mir die Taschenlampe in die Hand und begann mit der Eisenstange den Boden aufzuscharren. Er arbeitete mit der größten Vorsicht, ständig darauf bedacht, keine grö-
    ßeren Brocken zu bewegen. Ich hielt die Taschenlampe in beiden Händen.
    »Hörst du uns?« fragte ich.
    »Ja, ganz nahe!«
    Nach einer Weile rief sie:
    »Da kommt mehr Luft!«
    Unsere Wortwechsel hatten Seiji geweckt, der jetzt heftig atmend neben uns kauerte. Etliche Minuten vergingen. Kunio kratzte ruhig und beständig weiter. Plötzlich senkte sich die Eisenstange in eine Höhlung; wir hörten das Sirren von kleinen Steinen und Schutt.
    »Da!« rief Naomi.
    »Kannst du tiefer graben?« fragte ich Kunio. Ein paar Atemzüge lang erfüllte uns die verzweifelte Hoffnung, daß wir es fertigbrachten, sie zu retten.
    »Vielleicht…«, flüsterte er.
    Noch während er sprach, richteten sich mir im Nacken die Haare auf. Ein Knirschen drang aus der Hauswand. Mörtel rieselte herab. Plötzlich kam ein klatschender Schlag. Kleine Steinstücke lösten sich von der Betonmasse, sprangen um uns herum. Und mit dem Stein kam noch etwas anderes: das langgezogene Knarren einer bis zum äußersten gespannten Belastung. Das Geräusch drang gleichsam aus der Hauswand und aus der Betonmasse, bohrte sich wie Nadelstiche in unsere Ohren. Und im gleichen Augenblick sagte Naomi:
    »Der Pfeiler sackt tiefer!«
    Behutsam zog Kunio die Stange zurück und legte sie aus der Hand.
    Die kleinste Verlagerung des Gleichgewichts konnte verlie-rende Folgen haben.
    »Zu gefährlich!« murmelte Kunio.
    Da bewegte sich etwas vor meinen verklebten Augen. Im dünnen Lichtstrahl der Taschenlampe wurde ein gespenstisches Lebewesen sichtbar, eine Art Insekt, das langsam aus dem Schutt kroch. Und auch die Erde darunter rührte sich, drängte seitwärts, im langsamen Rekeln, gab eine Hand frei, die zer-schunden und zerkratzt, mit rotlackierten Nägeln aus dem Schutt ragte. Ein Bild flackerte in meiner Erinnerung; dieselbe Hand, aus dem roten Futter eines Kimonos gleitend, im Scheinwerferlicht sich hebend, während der Duft weißer Lilien die Dunkelheit füllte…
    »Naomi!«
    Schwere, heiße Tränen traten mir in die Augen. Aber ich konnte nicht weinen. Die Tränen trockneten sofort. Ich fühlte das hohe Fieber in ihrem Puls klopfen, als ich die Hand zwischen meine beiden nahm und an meine Wange drückte. Ihre Finger schlossen sich um meine, krallten sich daran fest. Eine Weile stöhnte ich leise, die Lippen in die klebrige Handfläche gepreßt. Naomis kleiner Finger mußte gebrochen sein, er war geschwollen und bewegungslos. Nach einer kurzen Zeit hörte ich ihre Stimme; sie klang zitternd und tränenerstickt.
    »Wasser!«
    Kunio schraubte die Flasche auf: Ich drehte vorsichtig ihre Hand, so daß wir das Wasser in die Handfläche gießen konnten.
    Sehr langsam zog sie ihre Hand zurück. Das Wasser würde kaum reichen, um ihre Lippen zu benetzen. So zusammenge-kauert, kostete sie das bloße Einziehen der Schulter, das Drehen des Ellbogens unendliche Mühe. Und bei jeder Bewegung steigerte sich der verhängnisvolle Druck, ließ sie immer stärker die Härte und Rauheit des Betons spüren, der sie erstickte. Erst nach einer Weile hörten wir ihre Stimme:
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