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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
Autoren: Jana Simon
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aufgeregt. Ich sehe noch vor mir, wie er sich die Hände reibt und meiner Mutter erklärt, dass er verdächtigt werde, jüdischer Herkunft zu sein. Jüdische Eltern hatten ihn adoptiert. Seine richtigen Eltern waren »Arier«. Er wollte Dokumente finden, um das zu beweisen, denn er war schon aus dem Schuldienst entlassen worden und seine Frau gleich mit …
    GW     … jede Familie musste einen »Ariernachweis« haben bis ins Mittelalter …
    CW     … zu diesem Zeitpunkt war ich zwar bereits begeistertes »Jungmädchen«, aber ich hatte wahnsinniges Mitleid mit diesem Mann. Meine Mutter sagte zu ihm: »Sie müssen mir gar nicht alles erzählen. Ich glaube Ihnen, und natürlich kaufen Sie weiter bei uns ein.« Und was hat sie gemacht? Sie schickte meinen Bruder und mich jede Woche zur Englischnachhilfe zu den Lehmanns. Meinem Bruder hat er das Lispeln mit Mohnkörnchen abgewöhnt. Oder meine Mutter hat einmal – und das war wirklich gefähr lich – gegen Kriegsende sowjetischen Gefangenen geholfen. Im Landsberger Stadion waren Baracken für sowjetische Gefangene und Fremdarbeiter errichtet worden. Hinter vorgehaltener Hand wurde erzählt, sie hätten dort nichts zu essen und würden wie die Fliegen sterben. Eines Tages war mal wieder Tante Emmi aus Königsberg zu Gast, saß vor dem Haus, strickte, und ich turnte am Geländer herum. Da kam eine Ukrainerin, die immer für die Offiziersfrau einkaufen ging, und flüsterte mit meiner Tante, die Polnisch konnte. Dann verschwand sie wieder. Erst später, nach dem Krieg, wurde mir erzählt, die Ukrainerin habe meiner Tante gesagt, in dem Lager erwarte ein Mädchen ein Kind und habe überhaupt keine Sachen für das Baby. Als meine Mutter das hörte, hat sie der Frau einen Korb mit zerrissenen Bettlaken und Tüchern gegeben. Ein paar Tage später lag ein Blumenstrauß vor unserem Laden, »Danke« stand auf einem Kärtchen. Wenn diese Aktion herausgekommen wäre, dann wäre meine Mutter weg gewesen.
    JS     Oma, du erzählst sehr bewundernd von deiner Mutter. Wie haben euch eure Familien geprägt? Gibt es Dinge, die ihr von euren Eltern oder Großeltern übernommen habt?
    CW     Mein Bruder und ich haben unsere Mutter abgöttisch geliebt, sie fast schon heroisiert. Wenn sie krank war, einmal wurde sie im Krankenhaus operiert, habe ich sofort einen Riesenaufstand gemacht, habe gebrüllt, getrampelt. Meine Mutter sagte zu mir: »Du bist ein richtiges Revolutionsbaby.« Weil ich am 18 . März geboren worden war. Sie war die dominante Figur in der Familie, die sich wie eine Löwin für uns schlug. Mein Vater dagegen war weicher, schwächer … eine Eigenschaft, die ich erst später an ihm schätzen lernte. Seine starke Anpassungsfähigkeit hat mich ein bisschen gestört. Aber er war ein guter Mensch!
    GW     Das war so der typische Anpassungsmensch.
    JS     Politisch?
    CW     Nein, überhaupt.
    GW     Er wollte mit allen gut auskommen.
    CW     Ich mochte oft nicht, wie er sich an Leute heranmachte. In seinen letzten Jahren konnte ich dann schätzen, dass er sich bis ins hohe Alter diese Freundlichkeit und das Interesse für andere Menschen bewahrt hat. Zeitweilig dachte ich, er könnte ein bisschen mehr den Stolz haben, den meine Mutter hatte. Meine Mutter war sehr stolz, das habe ich von ihr geerbt.
    GW     Mein Vater hat mit mir nie über meine Mutter gesprochen. Ich habe auch nie gefragt. Dass sie gestorben war, hatte mir unsere Haushaltshilfe erzählt. Ich war sehr wütend. Ich bin selten zornig, aber bei dem Begräbnis meiner Mutter griff ich unsere Nachbarin an und sagte: »Du konntest sie doch nie leiden!« Meine familiären Bindungen waren nicht eng. Ich wollte nur so schnell wie möglich weg.
    CW     Gerds Haltung war für mich unvorstellbar. Dass er keine Verbindung zur Familie hatte und auch nicht haben wollte. Ich habe meine sehr engen familiären Bindungen erst schwer und mit seiner Hilfe lösen können.
    Es ist Abend geworden. Mein Großvater hat das Essen zubereitet. Wir ziehen ins Wohnzimmer um. An den Wänden hängt Kunst, Bilder von Malern, die meine Großeltern kennen oder mit denen sie befreundet sind. Wir sitzen an einem ovalen Tisch, den man ausziehen kann. Bei Festen und Feiern versammelt sich hier die Familie. Wir essen, trinken Wein, den mein Großvater mit Begeisterung ausgesucht hat, und reden weiter.
    CW     Seitdem ich an Kindheitsmuster gearbeitet habe, frage ich mich immer wieder: Warum brach ich
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