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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
Autoren: Jana Simon
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zusammen, als ich von der Judenvernichtung erfuhr?
    GW     Was heißt, du brachst zusammen? Das ist mir immer ein bisschen zu viel!
    CW     Als ich erfuhr, was die Nazis, die Deutschen wirklich gemacht hatten …
    GW     Na gut, wie sah der Zusammenbruch aus?
    CW     Nach der Flucht, als wir in Gammelin gelandet waren, in diesem Dorf in Mecklenburg, weiß ich noch genau, wie wir 1946 meinen Vater vom Bahnhof abholen gingen. Wir hatten uns nach dem Krieg bei meinem Onkel verabredet, dort war mein Vater nach etwa einem Jahr russischer Gefangenschaft angelangt und hatte uns eine Karte geschrieben, dass er käme. Wir hatten uns ein Fuhrwerk geborgt und fuhren zum Bahnhof. Aus dem Zug stiegen auch andere Heimkehrer. Dann stand da dieser Mann mit einer Nickelbrille, die er mit Gummis an seinen Ohren befestigt hatte. Er hatte keine Haare, trug ein abgewetztes, aus mehreren Uniformen zusammengeschneidertes Etwas und war nur noch Haut und Knochen. Meine Mutter war an der Schilddrüse erkrankt und auch nur ein Strich in der Landschaft. Die beiden erkannten sich gegenseitig nicht und liefen aneinander vorbei. Beim zweiten Vorbeimarsch fragten sie: Otto? Hertha? Furchtbar! Ich erkannte meinen Vater auch nicht. Auf der Rückfahrt, als sich unser Wagen dem Bauernhof näherte, saßen mehrere Flüchtlinge am Fenster und sangen »Der Mond ist aufgegangen« zur Begrüßung meines Vaters. Ich fand das grauenhaft. Dann versammelten sich alle in der Küche. In dem Haus wohnten zeitweise fünfzig bis sechzig Leute, Flüchtlinge, KZ ler. Ich ging als Einzige ins Zimmer und setzte mich auf einen Sessel. Tante Elfriede kam zu mir und sagte: »Lass mal, Christel, das wird wieder. Dein Vater wird wieder der, der er einmal war!«
    JS     Du hattest das Gefühl, das ist nicht mehr dein Vater?
    CW     Absolut. Wir schliefen alle in einer winzigen Kammer. Dort hörte ich nachts Kämpfe, mein Vater wollte sich anscheinend meiner Mutter nähern, und sie sagte immer: »Lass doch, Otto, lass doch!« Als ich hörte, wie sich meine Mutter meines Vaters erwehrte, hatte ich Wut auf meine Mutter, denn es war ja immerhin mein Vater und ihr Mann, zugleich habe ich sie auch verstanden. Ich war damals 16 .
    JS     Die Liebe war über den Krieg erloschen?
    CW     Mein Vater war ein Schrumpelgreis von 85 Pfund. Er aß alles, was die Bäuerin ihm gab, jeden Rest. Ich habe das verstanden. Andererseits fand ich es schrecklich, wie mein Vater jeden kleinen Bissen hinunterschlang. Meiner Mutter ging es, glaube ich, ähnlich.
    JS     Das war ehrenrührig?
    CW     Es war demütigend.
    JS     Wann hast du ihn wieder als Vater akzeptiert?
    CW     Relativ schnell.
    JS     Hat er viel aus dem Krieg erzählt?
    CW     Gar nicht. Als wir in Bad Frankenhausen lebten und er wieder ein reputierter Mann, der Leiter vom Kinderheim, war, als alles wieder in Ordnung, die Familie wieder zusammen war, als alle wieder so aussahen, wie sie sollten, gingen wir einmal gemeinsam spazieren. Und dabei sagte mein Vater zu mir: »Du, Christel, das eine will ich dir mal sagen, der Mensch ist furchtbar, merk dir das!« Diesen Satz hätte ich meinem Vater nie zugetraut, denn im Grunde wollte er immer alles in Ordnung finden.
    JS     Ich erinnere mich, dass er mir einmal erzählte, da war ich vielleicht zehn Jahre alt, wie er im Krieg verschüttet und gerettet wurde.
    CW     Das war im Ersten Weltkrieg. Im Zweiten wäre er beinahe verhungert.
    JS     Wie seid ihr schließlich in Bad Frankenhausen gelandet?
    CW     Als mein Vater wieder einigermaßen bei Kräften war, erwachte der Instinkt, dass er die Familie ernähren musste. Er arbeitete dann bei einer Versicherungsgesellschaft in Schwerin, und die fragten ihn, ob er nicht Heimleiter werden wolle. Also packten wir unsere Sachen, die wir gerettet hatten – elf Gepäckstücke und einen Rucksack, aus dem ein Pfannenstiel herausschaute. Das Heim in Frankenhausen war eine Villa. Als wir dort ankamen, dachten wir, wir träumten. Darin standen noch Möbel von den SS -Leuten, die zuvor dort gehaust hatten. Es gab sogar Betten. Es war unglaublich! Wir wohnten in der unteren Etage. Von da an hatten wir das Gefühl, wir sind wieder Menschen. Vorher hatten die Flüchtlinge den Bauern immer ihre geretteten Fotos gezeigt: Wir hatten auch einmal ein Haus! Wir hatten auch einmal Geld! Wir waren auch einmal wer!
    Mein Großvater beginnt, den Tisch abzuräumen. Zwischendurch klingelt das
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