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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
Autoren: Jana Simon
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Telefon. Er ist eine Weile fort. Ich sitze allein mit meiner Großmutter im Wohnzimmer, wir führen das Gespräch fort. Die Frage nach ihrem Zusammenbruch, als sie von den Verbrechen der Nazis erfuhr, bleibt unbeantwortet.
    JS     Ich würde gern noch einmal zurück zu deiner Flucht aus Landsberg. Kannst du dich an den Tag erinnern, an dem klar war, jetzt müsst ihr fort?
    CW     Ja, da kann ich mich an jede Minute erinnern. Das war Ende Januar 1945 . Schon seit Wochen zogen Flüchtlingstrecks durch unsere Stadt, die noch weiter aus dem Osten kamen. Die Cousins und Cousinen aus Königsberg waren bei uns einquartiert. Unterricht hatten wir keinen mehr. Aus meiner Schule war ein Lazarett geworden, darin wurden auch die Flüchtlinge untergebracht. Wir betreuten sie. Ich schmierte stundenlang Leberwurstbrote. Aber am liebsten kümmerte ich mich um die Kinder und erzählte ihnen Märchen. Dort war eine hochschwangere Frau mit einem vierjährigen Kind. Sie wusste nicht, was sie mit dem Jungen machen sollte. Ich bin nach Hause gegangen und habe gefordert: »Wir müssen diesen Jungen aufnehmen!« Meine Eltern sagten, das könnten wir nicht, dafür habe ich sie gehasst. Sie verschwiegen, dass wir selbst bald weggehen müssten. Es war ein ganz schwerer Winter, und es kamen immer mehr Flüchtlinge. Sie liefen an unserem Haus vorbei durch den Schnee, sie trugen keine Stiefel mehr, die Füße waren wund gelaufen, und immer noch dachten wir, das betrifft uns nicht. Bis ich eines sehr frühen Morgens erwachte und in unserem Flur lauter Säcke standen, voll gestopfte Bettsäcke. Es hieß, gleich kommt Onkel Max mit einem Wagen und wir müssen fliehen! Die Erwachsenen hatten alles geregelt. Onkel Max kam mit einem Trecker und sammelte die ganze Verwandtschaft ein, die Großeltern, die Cousinen, die Schwägerin, alle wurden auf den Wagen gehoben. Ich saß oben auf einem Bettsack, und unten stand meine Mutter und sagte: »Ich bleibe hier!« Sie wollte für unseren Vater das Haus beschützen. Und sie blieb wirklich da.
    JS     Du dachtest, du siehst sie nie wieder.
    CW     Ich fuhr aus der Stadt hinaus und hatte zwei Gedanken: Meine Heimat ist verloren, da kommen wir nie wieder hin, und meine Mutter ist verloren, die sehe ich nie wieder.
    JS     Was hat Heimat damals für dich bedeutet?
    CW     Diese Stadt, dieses Haus. Daran habe ich sehr gehangen. Meine Mutter lief dann zurück ins Haus, erzählte sie uns später, hängte das »Führerbild« ab, verheizte es und lief zur Kaserne zu einem Freund meines Vaters. Der sagte: »Frau Ihlenfeld, Sie sind noch hier, sehen Sie nicht, was los ist? Landsberg wird nicht verteidigt, morgen sind die Russen hier. Hauen Sie ab!« Ein paar Stunden nach uns floh sie aus der Stadt, aber nun zu Fuß. Später wurde sie vom letzten Postauto, das nach Frankfurt fuhr, mitgenommen. Sie überquerte die Oder und fragte alle, die sie traf, ob sie einen Lastwagenzug von Wiedemann aus Landsberg gesehen hätten.
    JS     Hattet ihr keinen Treffpunkt verabredet?
    CW     Nein, wir wussten ja nicht, wo wir langkämen. 14 Tage später hat sie uns in Wittenberge an der Elbe gefunden.
    JS     Du musst dich doch von ihr verlassen gefühlt haben. Wie hast du dieses Wiedersehen erlebt?
    CW     Es wurde gefragt: Sind hier Leute aus Landsberg? Der Wiedemann-Treck? Wir lagen auf Stroh in einem Klassenzimmer in einer Schule in Wittenberge. Dann hieß es: Deine Mutter ist da! Ich hätte aufspringen müssen, legte mich aber hin und war ganz starr …
    Glücklichsein hat sich bei mir damals in absoluter innerer Leere, innerer Funkstille ausgedrückt. Ich konnte auch nicht weinen, ich habe mich einfach hingelegt und war ganz starr.
    JS     Ist das heute noch so, oder wann hat sich das verändert?
    CW     Nein, in Beziehungen zu Menschen will ich mich nicht mehr verbergen. Damals gab es ganz prägnante Situationen, in denen ich mich so verhalten habe. Bewegende und dramatische Situationen, in denen ich wahrscheinlich aus einer Art Schutzmechanismus heraus in eine Starre verfallen bin.
    JS     Hast du dich deiner Gefühle geschämt?
    CW     Vielleicht kam das von meiner Mutter. Sie konnte plötzlich in Weinen ausbrechen, in Freude weniger. Ich fürchte, sie hat nicht sehr viel Freude gehabt.
    Mein Großvater kehrt vom Telefon zurück.
    GW     War Honza 9 !
    JS     Wie war das bei dir, Opa, du musst doch sehr traurig gewesen sein, als du erfuhrst, dass deine Mutter
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