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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
Autoren: Jana Simon
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nicht immer«, war seine Antwort. Ich habe den Eindruck, die Hochzeit der beiden war so etwas wie das letzte Aufgebot für meine Mutter. Als sie ihn heiratete, war sie schon 26 , das war für damalige Verhältnisse spät. Mein Vater hatte sich ausgelebt, er war 29 . Sie war eine sehr selbständige Frau, Buchhalterin in einer großen Käsefabrik. Sie konnte sich selbst versorgen. Nachdem meine Eltern geheiratet hatten, betrieben sie den Laden.
    JS     Wo haben sich die beiden denn kennengelernt?
    CW     Auf einem Fest bei einer Freundin meiner Mutter. Otto hat sich an Hertha herangemacht. Er hat ein bisschen getrunken, und als sie gehen wollte, bestand er darauf, sie nach Hause zu begleiten, aber sie wollte nicht. Er begleitete sie dennoch. Meine Mutter setzte ihn dann auf den Stein in ihrem Vorgarten, und als sie wenig später aus dem Fenster sah, war er schon weg. Aber sie machte sich die ganze Nacht Gedanken: Wo ist der hingegangen in seinem Suff? Er war in den Stadtpark getorkelt und hatte dort auf einer Bank übernachtet. So geht die Familiensaga. Am nächsten Morgen wurde er von einem Polizisten aufgestöbert. Er machte sich nur kurz zurecht, rief von seinem Betrieb aus bei meiner Mutter in der Käsefabrik an und fragte sie, wann sie sich wieder treffen könnten. Das hat meiner Mutter anscheinend imponiert.
    GW     Erzähl mal die Lechner-Geschichte!
    CW     Das ist eine Familiengeschichte, die ich erst viel später erfahren habe und die mich sehr beschäftigt hat. Als ich Kindheitsmuster schrieb, befragte ich meinen Vater viel zu unserer Familie, und er erzählte Folgendes: Die Schwester meiner Mutter, Tante Elfriede, eine sprühende Frau, hatte mehrere Fehlgeburten. Das war in der Familie bekannt. Es hieß, sie könne keine Kinder kriegen. Ihr Mann, Onkel Maxe, war Prokurist beim Kohlenhändler Wiedemann. Und auf einmal war sie schwanger. In unserer Familie wurde über Sexualität überhaupt nicht gesprochen. Das kannst du dir heute gar nicht mehr vorstellen, wie man da lauscht und versucht, alles aufzuschnappen. Das Baby war ein Siebenmonatskind. Ich wollte natürlich gern mehr erfahren, aber niemand erzählte mir etwas. Es gab eine Nottaufe. Gerhard, so hieß das Kind, kam durch. Mein Vater ließ später durchsickern, dass bei uns in der Familie das Gerücht umging, dass der Gerhard gar nicht das Kind von Onkel Maxe war, sondern von dem jüdischen Arzt der Tante Elfriede, Doktor Lechner. Ich habe das in Kindheitsmuster nur angedeutet. Ich beschreibe eine Feier, wo Doktor Lechner, den ich Doktor Leitner nenne, neben meiner Tante sitzt. Nach der Veröffentlichung gab es deswegen ein Riesentheater mit einem Vetter. Jahre vergingen, und auf einmal bekomme ich Anfang der achtziger Jahre einen Brief aus Kanada, der beginnt mit den Zeilen: »Und aus seinen Finsternissen tritt der Herr, so weit er kann, und die Fäden, die zerrissen, knüpft er alle wieder an.« 7
    GW     Wir suchten noch, von wem das ist! Goethe?
    CW     »Liebe Christa Wolf«, stand da. »Es schreibt Ihnen Doktor Leitner.« Lechner war 1936 aus Deutschland geflohen. Ich antwortete ihm sofort, schon im zweiten Brief wurde klar, er ist tatsächlich der Vater von diesem Gerhard. Er kam dann extra einmal nach Deutschland, und wir trafen uns in Westberlin. Ein ganz nobler Mensch. Er erzählte, er habe Tante Elfriede immer vor seiner Praxis auf und ab gehen sehen, und eines Tages stand sie vor seiner Tür. Er sagte: »Gnädige Frau, Sie wissen, dass ich Sie nicht behandeln darf.« Seine Praxis war schon vom Marktplatz verdrängt worden, er durfte nur noch jüdische Patienten nehmen. Tante Elfriede habe geantwortet, das mache nichts, ihr Arzt sei auch Jude, aber im Urlaub. Doktor Lechner stellte fest, dass bei Tante Elfriede alles in Ordnung war. Dass sie keine Kinder bekam, hatte psychosomatische Ursachen. Sie war eine unglückliche Frau.
    GW     Das war verrückt. Die beiden wohnten dann im selben Haus. Bei der Tauffeier vom kleinen Gerhard saß Doktor Lechner auf dem Platz von Onkel Max …
    CW     … bei der Tauffeier hieß es: Jeder dürfe sich ein Lied wünschen, und die anderen würden es für ihn singen. Doktor Lechner wünschte sich »Am Brunnen vor dem Tore« – also das deutscheste aller deutschen Lieder. Und diese deutsche Familie sang dieses Lied für den jüdischen Arzt. Ich habe meinen Vater gefragt: »War das nicht gefährlich?« Er sagte: »Ach Gott, nein, das war der Arzt von Tante Elfriede, und wir
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