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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht
Autoren: authors_sort
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dass sie eine innerhalb von zwanzig Minuten zum Schmelzen brachte. Sie beklagte sich nie. Mein Vater und ich schlichen uns in kurzen Abständen an ihr Bett, um die Eispackung zu wechseln oder ihr einen nassen Waschlappen auf die Stirn zu legen, und dann lächelte sie schwach und versprach, bald wieder nach unten zu kommen. Gelegentlich forderte sie mich auf, ihr mit einem Metallkamm über die Kopfhaut zu kratzen, dem Prinzip folgend, dass man die Schmerzen, wenn man sie schon nicht lindern, doch wenigstens abwechslungsreich gestalten konnte.
    Während dieser Rückzugsphasen mussten mein Vater und ich für uns selbst sorgen. Vater, der nicht nur so vor sich hin wursteln wollte, riss sich zusammen, holte Kochbücher aus dem Arbeitszimmer, fuhr meilenweit, um nach obskuren Zutaten zu suchen, und bereitete eine üppige, für den Gaumen eines Kindes ziemlich ungeeignete Mahlzeit - Tintenfisch vielleicht, oder ein scharfes Currygericht die ich tapfer schluckte, während ich die ganze Zeit betete, dass meine Mutter schnell wieder genesen solle.
    Manchmal hielt Vater es für seine Pflicht, mich zu unterhalten, eine Situation, die uns beiden Sorgen bereitete. Einmal, als ich fünf war, ging er mit mir zu einer Matinee von Verlorene Liebesmüh während der ich die ganze Zeit fest schlief, und ein andermal in einen Zirkus, wo ich sowohl den Anblick erwachsener Männer in Clownskostümen, die sich lächerlich machten, ertragen musste, als auch den meines Vaters neben mir, der sich vor Langeweile und Verlegenheit wand. »Hast du geglaubt, das würde mir gefallen, Daddy?«, fragte ich ihn danach freundlich, eine Geschichte, die er oft erzählte, als ich älter war. Nach diesen Katastrophen unterließ Vater es für eine Weile, Ausflüge vorzuschlagen, und beschränkte sich auf einfachere Vergnügungen. Er brachte mir Backgammon und Rommee bei oder saß einfach neben mir auf dem Sofa, während jeder in seinem Buch las und darauf wartete, dass die Migräne oben vorbeiging. Aber ein Ereignis sticht aus allen anderen heraus.
    Schon den ganzen Morgen hat im Haus eine komische Atmosphäre geherrscht. Kein Streit, aber so als würde etwas unterschwellig gären. Der samstägliche Einkauf beim Fleischer und Obst- und Gemüsehändler ist schweigend erledigt worden, und gegen elf Uhr hat meine Mutter sich mit Kopfschmerzen ins Bett zurückgezogen. Für mich ist das eine frühe Phase der wachsenden Erkenntnis, dass meine Eltern nicht besonders glücklich sind - wenigstens nicht gleichzeitig. Mir ist langsam aufgefallen, dass sie sich nicht anschreien wie andere Paare, die ich zum Beispiel auf der Post gesehen habe, aber auch keine besondere Zuneigung füreinander an den Tag legen. Sie küssen, umarmen und necken mich, nicht sich.
    Während Mutter sich in ihr Bett und Vater sich in sein Arbeitszimmer zurückzieht, spiele ich im Garten hinterm Haus mit Margot und Sheena. In diesem Stadium (ich bin sechs) habe ich mir zwei imaginäre Freundinnen angeschafft, Margot, die etwas älter ist als ich, hübsch, dunkelhaarig und sehr herrisch, und Sheena, die jünger ist, blond, natürlich hübsch und nicht ganz so selbstbewusst. Ich mag Sheena lieber, aber Margot ist diejenige, die die Dinge regelt. Wir üben unser Ballett. Margot führt eine Reihe von Pirouetten vor, die in einem Sprung gipfeln, und Sheena und ich applaudieren begeistert. Margot hat schon Spitzenschuhe, während wir noch weiche Tanzschuhe tragen: Unsere Füße seien noch nicht ausreichend entwickelt, ist Margots Argumentation, und wenn wir zu früh versuchten, zu Spitzenschuhen zu wechseln, würden wir später deformiert sein und höchstwahrscheinlich verkrüppelt.
    »Du bist dran«, befiehlt sie, und ich fange mit der Nummer an, an der ich schon ein paar Tage gefeilt habe. Sie ist, finde ich, besser als Margots, weil sie eine Geschichte erzählt: Es geht um ein junges Mädchen, das sich mit einer Nachtigall anfreundet, die dann wegfliegt und es verloren zurücklässt, und wird mit so viel Pathos dargeboten, wie ich nur aufbringen kann. Sheena ist sehr bewegt.
    »Gefällt es dir?«, frage ich Margot.
    »Ja, Schatz, sehr gut.«
    »War sie so gut wie deine?«, hake ich nach.
    »Nein, Schatz«, sagt Margot freundlich. »Nicht ganz.«
    Während ich mich noch davon erhole, sehe ich Vater am Fenster. Er steht zwischen den Tüllgardinen und der Glasscheibe und blickt in die Ferne. Ich winke ihm, aber er sieht mich nicht. Als ich hineinkomme, steht er noch genauso da, und ich schleiche mich an
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