Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Fanatikerin werden.«
    Was steckt dahinter? Jedes Mal, wenn ich dachte, ich hätte einen Ausgangspunkt gefunden, fiel mir eine frühere Begebenheit ein, von der die spätere abhing. Egal, wie weit ich zurückging, ich schien nicht bis zum Anfang vorzudringen. Wenn ich bloß an dem Tag, als Lexi wegging, nicht zurück zum Haus gegangen wäre; wenn Anne Trevillion bloß besser Tennis gespielt hätte; wenn sie vor dreißig Jahren an der Schule meines Vaters bloß keine neue Deutschlehrerin eingestellt hätten. Schließlich hatte ich gesagt: »Ich hab mal die ganze Familie gekannt. Als ich noch zur Schule ging, habe ich praktisch bei ihnen gelebt Aber wir haben keinen Kontakt mehr.«
    Und das habe ich ihr nicht erzählt.

2
    Ich wurde auf den Namen Abigail Onions getauft. Eigentlich sollte ich Annabel heißen, aber mein Vater, der sich in einem Zustand erhöhter Gefühlsregung befand, als er meine Geburt registrieren lassen wollte, erinnerte sich falsch an den Namen, über den er und meine Mutter volle neun Monate debattiert hatten. Diese Verfehlung führte er darauf zurück, dass er an dem Abend, als meine Mutter ins Krankenhaus musste, Nabucco gehört hatte, und der Name Annabel und der der bösen Schwester in seinem Kopf durcheinander geraten waren. Es war eine lange und schwere Niederkunft, und da ist ein gewisses Element der Verwirrung verständlich. Ich nehme an, ich sollte dankbar sein, dass er nicht Götterdämmerung gehört hat.
    Nach ein paar Tränen fand meine Mutter sich mit dem neuen Namen ab, und als ich allmählich hineinwuchs, gefiel er ihr sogar besser als der ursprüngliche, den sie unerklärlicherweise plötzlich »ordinär« fand, ihrer Meinung nach das Allerschlimmste, was ein Name - oder auch alles andere - sein konnte.
    Für mich war all das natürlich nicht besonders wichtig, Im Vergleich zu dem Gräuel meines Nachnamens (Onions = Zwiebeln) - der Munition für Tausende von Wortspielen in sich barg und mich vor Verlegenheit lähmte, wenn ich jemandem vorgestellt wurde - war die leichte Abweichung zwischen meinem geplanten und endgültigen Namen nebensächlich. »Abigail« gab keinen Anlass zu Peinlichkeiten - eine Eigenschaft, die ich höher schätzte als jede andere.
    Wir bewohnten eine Hälfte eines großen, zwischen den Weltkriegen erbauten Doppelhauses in einer Vorstadt in Kent. Der Garten, der durch kniehohe Zäune von den Nachbargärten getrennt war, grenzte hinten an einen Eisenbahndurchstich. Die Strecke war eine wenig genutzte Pendlerlinie, auf der pro Tag vier Züge verkehrten, und morgens und abends hopste ich am Ende des Gartens auf und ab und winkte den etwa zwölf Passagieren zu, während sie auf dem Weg zur Arbeit und zurück vorbeirumpelten. Als ich vier war, fand dieses Kindheitsritual ein unsanftes Ende: Ein Mann, der allein in einem Waggon war, entblößte sich am Fenster, und als ich meiner Mutter davon erzählte, brach sie in Tränen aus und verbot mir, weiterhin den Zügen zuzuwinken. »Von einem dreckigen Perversen eines unschuldigen Vergnügens beraubt«, hörte ich sie toben, als sie es Vater berichtete. Ich erzählte ihr nicht, dass ich den Pendlern schon seit ein paar Wochen meinen Schlüpfer gezeigt hatte.
    Meine Mutter war die Gärtnerin in der Familie. Sie sprach immer von Landschaftsgärtnerei, als hätte sie Berge zu bearbeiten und Flüsse zu zähmen statt eines tischtuchgroßen Rasenstücks und ein paar Blumenbeeten. Vater wurde mit ein paar niederen Arbeiten betraut - er musste mit einem Rasenmäher auf und ab stapfen, wobei er einen glitzernden Regenbogen aus Grasstaub aufsteigen ließ, das Gemüsebeet umgraben, Komposttüten besorgen und schleppen und alles beschneiden, was groß und stachelig war und woran man leicht hängen blieb.
    Die Rosen waren das Ressort meiner Mutter. Den ganzen Winter über hockten die verkümmerten Skelette in ihren Beeten, wie ein Vorwurf und eine Erinnerung an den Kampf, der jedes Jahr zwischen Mutters Arsenal aus Pudern, Kügelchen und Sprays auf der einen Seite und grüner Blattlaus, Mehltau und Sternrußtau auf der anderen um ihre zarten Blüten geführt wurde. Aber ihre Bemühungen blieben nicht ohne Erfolg, denn in jedem Sommer sprossen die Büsche, wurden dichter und brachen in einer samtigen Masse aus Farben und Duft hervor. Die Blumen zu pflücken war strengstens verboten. Meine erste Dosis körperlicher Bestrafung bekam ich dafür, dass ich für ein Parfümproduktionsexperiment alle Köpfe der Baroness Rothschild abgerissen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher