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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht
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Tennisschläger und eine Sammlung aus Holz-, Glas- und Keramikelefanten verschiedener Größe, über viele Jahre hinweg angesammelt, fiel mir auf dem Tisch im Flur ein Stapel Leihbücher auf. Reiselektüre. Wo normale Leute wahrscheinlich Gut essen in Florenz mitnehmen würden, hatte mein Vater Machiavelli und Giorgio Vasaris »Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten« als Führer.
    Wegen eines geplatzten Hauptwasserrohrs in Blackfriars hätte ich es fast nicht mehr zum Konzert geschafft: Von solch banalen Zufällen hängt unser Schicksal ab. Ein Teil des Embankments und die Unterführung waren geschlossen, und der Verkehr war zusammengebrochen. Ich musste mein Auto im absoluten Halteverbot stehen lassen und die U-Bahn nehmen - etwas, das ich normalerweise wegen der rauen Behandlung, die andere Fahrgäste meinem armen Cello zuteil werden ließen, nie tue, aber es war einfach zu weit, um das Ding zu Fuß zu transportieren.
    Es war voll am Bahnsteig, und es war klar, dass niemand auch nur einen Zentimeter weichen würde. Ich hatte schon meine Konzertklamotten an - eine Vorsichtsmaßnahme, falls ich mich verspäten würde - und musste ständig meinen langen Rock hochziehen, damit nicht dauernd jemand drauftrat. Als ein Zug einfuhr, wogte die Menge zurück und wieder nach vorn, wie eine Welle, die sich bricht, und ich wurde mit der Menschenmenge durch die Türen gesogen und in eine Ecke gequetscht, den Cellokasten zwischen den Beinen.
    Als ich beim Barbican ausstieg, war ich überzeugt, dass das arme Instrument nur noch Brennholz war. Es fielen ein paar Schneeflocken. Ich musste wohl langsam alt werden, denn ich dachte sofort: Ach du Scheiße. Schnee. In der letzten Zeit habe ich mich schon ein oder zwei Mal bei so was ertappt. Vor ein paar Monaten hatte man mir einen fürchterlich unvorteilhaften Haarschnitt verpasst, aber ich stellte fest, dass ich völlig gelassen blieb. Ich habe der Friseuse sogar noch reichlich Trinkgeld gegeben. Und auf der letzten Party, die in Bristol war, wurde mir plötzlich klar, als die Aussicht auf eine Heimfahrt von hundert Meilen um zwei Uhr morgens allmählich etwas bedrohlich wirkte und mir vorgeschlagen wurde, ich könnte auf dem Sofa »pofen« welche Entfernungen ich bereitwillig zurücklegen würde, um in meinem eigenen Bett zu schlafen. Und zu guter Letzt habe ich neulich wahrhaftig den Ausdruck »der letzte Schrei« benutzt. Das war nicht einmal akzeptabel, als ich noch zur Schule ging, aber mir fiel keine moderne Entsprechung ein. Meine Gesprächspartnerin schien jedoch keineswegs verblüfft. Vielleicht ist es wieder angesagt. Vielleicht ist es der letzte Schrei.
    Ich hatte gerade noch Zeit zu überprüfen, ob mein Cello die Reise überstanden hatte, und saß nur ein paar Sekunden, bevor der erste Geiger auf die Bühne rauschte, auf meinem Platz. Grace warf mir einen fragenden Blick zu, während wir die Instrumente stimmten, und ich verdrehte die Augen. Ich spürte, wie sich Teile meines Haares aus der Klemme am Hinterkopf lösten. Ist doch egal, dachte ich, als eine weitere Strähne vor meinen Augen baumelte. Dich wird sowieso niemand anschauen.
    Danach fand ein Empfang statt. Die meisten Orchestermitglieder gingen sofort nach Hause: Viele haben junge Familien und halten sich nach Aufführungen normalerweise nicht länger auf. Ich dagegen hatte keinen Grund, sofort wegzustürzen. Ich habe schon immer den Augenblick gehasst, wenn ich zum Abschluss des Tages allein meine Wohnung betrete, und zögere ihn immer hinaus, wenn ich kann. Grace sagte, sie würde noch bleiben: Sie kannte einen der Organisatoren der Wohltätigkeitsveranstaltung und hatte das Gefühl, sich sehen lassen zu müssen. Ich mag sie, weil sie ein geborener Enthusiast ist, aber ihr Durchhaltevermögen ist gering. Sie hat dauernd eine neue Marotte, für die sie sich stark macht. In dieser Saison war es Enthaltsamkeit, die sie angeblich bereits seit drei Monaten »erfolgreich ausübte«. Ich hatte keine Lust, ihr zu erzählen, dass ich in den letzten paar Jahren in einer ähnlichen Situation gewesen war, ohne dafür üben zu müssen. Der Unterschied bestand darin, dass ich es eher für eine missliche Lage hielt als für ein Hobby.
    Ich hatte vor dem Konzert keine Zeit gehabt, etwas zu essen, weil ich von meinen Eltern zur Reinigung und dann nach Hause gehetzt war, und dachte, ich könnte vielleicht eine Vol-au-Vent oder so was abstauben. Grundsätzlich bin ich nicht so scharf auf
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