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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht
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Wohltätigkeitsgalas. Das Publikum besteht nicht unbedingt aus Musikliebhabern; die Leute sind gekommen, um den königlichen Schirmherrn anzuglotzen. Sie klatschen an den falschen Stellen und scheinen nach der Pause nur widerwillig von der Bar zurückzukehren. Heute Abend jedoch waren die Zuschauer wohlerzogen, aber zweifellos verstimmt, weil das unbedeutende Mitglied der königlichen Familie in letzter Minute durch jemanden von noch geringerer Herkunft ersetzt worden war.
    Als ich Grace fand, trank sie gerade Champagner und starrte auf eine der Schautafeln, auf der die Arbeit des Wohltätigkeitsvereins an einem Bewässerungsprojekt dargestellt war. Darauf waren ein paar Fotos von Entwicklungshelfern und Dorfbewohnern, die einen Brunnen gruben, zu sehen nebst einem ziemlich herablassenden Text.
    »Nicht gerade aufwühlende Bilder«, sagte ich zu Grace.
    »Tja«, sie deutete auf die mit Edelsteinen geschmückten Horden, »wir wollen sie ja nicht mit der Nase reinstoßen.« In unseren langen, schwarzen Röcken und hochgeschlossenen Blusen sahen wir aus wie zwei Gouvernanten, die aus den Unterkünften der Dienerschaft hereinspaziert waren. Eine Frau hatte bereits versucht, mir ihren Mantel zu geben. Grace‘ Freund Geoff kam auf uns zu und sah genervt aus. Er war zirka einsneunzig und dünn und hielt die Arme an Ellbogen und Handgelenk gebeugt, als würde er an Fäden hängen wie eine Marionette. Grace machte uns miteinander bekannt, und als er mir ausgesprochen leicht die Hand drückte, fiel mir auf, dass die Manschetten seiner Smokingjacke durchgescheuert waren und den Blick auf gut drei Zentimeter Hemd frei ließen. Er roch nach abgestandenem Zigarettenrauch. Er wird sich später nicht an meinen Namen erinnern, dachte ich.
    »Schöne Musik«, sagte er, als er sich bückte, um Grace zu küssen. »Scheißherzogin.« Er kratzte sich heftig am Kopf, wodurch seine Haare büschelweise abstanden. »Ich nehme an, sie kann nichts dafür, dass sie krank ist«, räumte er ein.
    »Erfüllen diese Veranstaltungen denn ihren Zweck?«, fragte Grace.
    »Oh ja.« Er nickte energisch. »Ich weiß, es ist leicht, diese Leute als ...«, er betrachtete die Gäste, die in ihrem Feststaat umherliefen, »Schickeria abzutun, aber sie bringen wirklich das Geld zusammen.«
    »Ist das alles, worum es geht? Brunnen zu graben?«, fragte ich und zeigte auf die Poster. »Haben sie wirklich ausgebildete Ingenieure da draußen?«
    »Wenn es Sie interessiert, kann ich Sie dem Typen vorstellen, der das Projekt im Senegal in den letzten fünf Jahren geleitet hat. Oder wollten Sie nur höflich sein?«
    »Nein«, sagte ich höflich. »Es interessiert mich.«
    Er verschwand in der Menschenmenge und war nach zehn Minuten immer noch nicht zurück. Ich nahm mir von einer patrouillierenden Kellnerin ein Glas Champagner und dachte an mein Auto, das inzwischen auf einem Abstellplatz in irgendeinem trostlosen Industriegebiet an der A3 stand, zweifellos mit einem Knöllchen an der Windschutzscheibe. Diskret winkte ich eine weitere Kellnerin herbei, die eine riesige Platte mit etwas hielt, wovon Grace steif und fest behauptete, dass es in Gastronomiekreisen Canapees de luxe genannt wurde. Eine Wurst im Blätterteig oder ein Ritz-Cracker waren jedenfalls nicht in Sicht. Jemand - Mensch oder Maschine - hatte sich die Mühe gemacht, aus hart gekochten Wachteleiern das Eigelb herauszunehmen, es mit etwas Cremigem zu vermischen und in kleinen Rosetten wieder hineinzuspritzen. Alles war so winzig, so wunderschön, so delikat hergerichtet, dass man den ganzen Abend essen konnte und nie satt werden würde.
    »Ach, da seid ihr«, sagte Geoff. »Abigail Jex. Marcus Radley.«
    Marcus Radley. Für dieses Treffen, oder Varianten davon, hatte ich im Geiste tausendmal geübt, doch trotz all dieser Vorbereitung schaffte ich es nicht, einen der brillanten und vernichtenden Sätze zu sagen, die ich über die Jahre hinweg eingeübt hatte. Stattdessen sagte ich »Hallo Marcus«, wobei ich den Namen ganz schwach betonte und seine Fremdheit auskostete. Er sah genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: Meine Fantasie hatte ihn automatisch altern lassen, sodass er vor meinem geistigen Auge immer zwei Jahre älter war als ich. Sein Haar war noch dasselbe, dunkel, lockig und schlecht geschnitten, genauso wie sein Stirnrunzeln, das Uneingeweihte für Missbilligung hielten, das jedoch gelegentlich auch Konzentration erkennen ließ, und seine Augen, in denen der Schock zu sehen war, als er
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