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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht
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hatte. Die Hand, die zu sanft war, ein Blütenblatt zu zerquetschen, hinterließ durch zwei Schichten Kleidung einen vierfingrigen blauen Fleck auf meinem Hintern. Ich hatte gehofft, durch den Erfolg meines Projekts rehabilitiert zu werden, aber das Marmeladenglas mit Wasser und Rosenblättern verwandelte sich über Nacht in ein übel riechendes, braunes Mus und musste auf den Kompost geworfen werden.
    Unsere Straße war eine von Bäumen gesäumte Sackgasse in Form eines Lutschers, mit einer runden Grünfläche am Ende, von der Hunde und Kinder, eigentlich alle Lebewesen, denen sie eventuell etwas Vergnügen bereitet hätte, fern gehalten wurden, und sie wurde von Autofahrern, die die Abzweigung nach Bromley übersehen hatten, als Wendeplatz benutzt - eine Tatsache, die bei meiner Mutter erhebliche Bestürzung auslöste. Manchmal stand sie am Fenster, sah mit verschränkten Armen durch die Tüllgardinen und beobachtete das Vordringen irgendeines Anstoß erregenden Fahrzeugs. »Wender«, erklärte sie dann missbilligend. Abgesehen vom Eindringen »der Wender« war es eine ruhige Straße: Gartenarbeiten vor dem Haus wurden normalerweise schweigend verrichtet, und Nachbarn kommunizierten über angrenzende Hecken und Mauern hinweg eher mit Kopfnicken und dem Hochziehen von Augenbrauen als mit Worten. Auch im Haus war es still. Die dicken, weichen Teppiche schienen Geräusche zu schlucken, wie Löschpapier Tinte aufsaugt, und Mutters Vorschrift, in der Wohnung die Straßenschuhe auszuziehen, führte dazu, dass wir drei in unseren Socken so leise umhertapsten wie Katzen. Sogar die Kuckucksuhr, ein Souvenir von der Hochzeitsreise meiner Eltern in die Schweiz, hatte nach und nach ihre Stimme verloren, und das Vögelchen kam jede Stunde mit einer stummen Grimasse statt mit einem Zwitschern hinter seinem Türchen hervor. Manchmal ließ Mutter auf dem Plattenspieler klassische Musik laufen, aber nur mit der Lautstärke auf der geringsten Stufe: Oboen zwitscherten wie Kanarienvögel, Becken klirrten wie Teelöffel, und großartige, dröhnende Symphonien waren zu einem Flüstern gedämpft.
    Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb das folgende Ereignis so deutlich aus meinen Erinnerungen hervorsticht. Es kommt mir seltsam vor, dass ich mich so detailliert an etwas erinnern kann, das passierte, als ich erst zwei war, aber ich weiß, dass ich damals nicht viel älter gewesen sein kann, weil ich noch in meinem Kinderbett schlief, und in der Familienüberlieferung ist es gut dokumentiert, dass das Bettchen zusammenbrach, als ich zweieinhalb war, wobei ich mir die Finger einklemmte, und dass danach für gefährlich gehalten und zum Wohltätigkeitsbasar der Pfadfinder gegeben wurde.
    Woran ich mich erinnere, ist Folgendes: Einige Zeit, nachdem ich ins Bett gebracht worden war, wachte ich vom Weinen, eigentlich vom Schluchzen, meiner Mutter auf. Durch die offene Tür konnte ich das Licht aus dem Elternschlafzimmer sehen, das Streifen auf den Treppenabsatz warf; meine Mutter kam heraus und zerrte einen Koffer hinter sich her. Einen Augenblick später hörte ich schwere Schritte auf der Treppe, und mein Vater, der ebenfalls weinte, erschien. Dann folgte ein wütender Wortwechsel und ein Kampf um den Koffer, den mein Vater natürlich gewann, und ein gewaltiges Krachen, als er ihn die Treppe hinunterschleuderte. Das war die einzige Gewalttätigkeit, die ich unter diesem Dach je erlebt hatte, und mein verängstigtes Geheul ließ gleich darauf meine Mutter zu mir eilen; sie umarmte mich grimmig, bis ich wieder einschlief. Soweit ich weiß, haben sie nie wieder ihre Stimmen erhoben. Es war ein sehr zivilisierter Haushalt.
    Es gab auch medizinische Gründe, wieso in der Sackgasse, Hausnummer 12, Ruhe so hoch geschätzt wurde. Meine Mutter litt an schrecklichen Migräneanfällen, die sie tagelang außer Gefecht setzten, und die durch helles Licht, Hitze, Lärm, Erregung und eine Vielzahl von harmlos aussehenden Nahrungsmitteln ausgelöst werden konnten. So lange wie möglich widersetzte sie sich einem Ausbruch, schleppte sich blass, eine Packung gefrorener Erbsen an die Stirn gepresst, mit zugekniffenen Augen im Haus herum, bis es sie schließlich die Treppe hinauf trieb, wo sie Zuflucht im abgedunkelten Schlafzimmer suchte. Im Eisfach unseres Kühlschrankes war eigens für diesem Fall immer ein Vorrat an gefrorenem Gemüse. Die Packungen mussten regelmäßig gewechselt werden, denn die glühenden Kopfschmerzen meiner Mutter waren so intensiv,
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