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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht
Autoren: authors_sort
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ihn heran und schlüpfe unter den Tüll. Geistesabwesend legt er mir eine Hand auf den Kopf und zerzaust mein Haar, das ich prompt wieder glatt streiche.
    »Daddy?«, sage ich. »Wieso sind du und Mummy traurig?«
    Seine Hand zuckt zurück, als hätte er den Finger in eine unter Strom stehende Steckdose gesteckt, und er sagt: »Wir sind nicht traurig, Schätzchen. Wie könnten wir das sein, mit so einer wunderschönen Tochter?« Und er schiebt die Tüllgardinen weg, hebt mich schwungvoll hoch und gibt mir einen Kuss auf die Nase. »Ich sag dir was, wir gehen aus, ja? Wir essen irgendwo zu Mittag.« Das ist sehr aufregend für mich, weil ich noch nie auswärts gegessen habe.
    Als Vater das Auto rückwärts aus dem Tor fährt, öffnet sich ratternd das Schlafzimmerfenster, und Mutter erscheint, eine Plastiktüte in der Hand. »Hast du nicht was vergessen?«, sagt sie kalt, und Vater zieht ruckartig die Handbremse an und geht mit großen Schritten die Einfahrt wieder hinauf. Einen Augenblick später kommt er mit der Tüte zurück, in der anscheinend ein mit braunem Papier umwickeltes Paket ist, und verstaut sie im Kofferraum.
    »Was ist das?«, frage ich, als wir endlich auf dem Weg sind.
    »Eine Besorgung«, sagt er in einem Ton, der jede weitere Frage unterbindet.
    Ich sitze mit ausgestreckten Beinen auf dem Rücksitz anscheinend ist es gefährlich für mich, vorne zu sitzen, für Vater dagegen in Ordnung. Das macht es schwierig, sich zu unterhalten, aber Vater ist sowieso kein großer Redner, und in freundlichem Schweigen geht die Fahrt weiter, Straße um Straße, bis wir nach fast einer Stunde vor einem außergewöhnlichen Haus anhalten. Im Vergleich zu diesem Haus ist die Straße unauffällig - zwei Reihen großer Backsteinhäuser, keine Lücken dazwischen, kleine Vorgärten und zwei Parkstreifen mit Autos. Doch an der Ecke, von der Straße zurückgesetzt, am Ende einer halbkreisförmigen Zufahrt, hockt dieses Monster mit einem Turmzimmer auf jeder Seite, wie ein Paar hochgezogene, knöcherne Schultern, und mit ungleichmäßig großen Fenstern, die ihm ein beunruhigendes Schielen verleihen. Der Garten, ein Wald aus ungemähtem Gras, Dornensträuchern und riesigem, gummiartigem Gestrüpp, das von violetten Blumen erstickt wird, ist von einer hohen Mauer umgeben, und oben an den Torpfosten sind zwei Furcht erregende Bilder eingeritzt. Eins ist der Kopf eines knurrenden Wolfes, und das andere ist ein Adler oder Geier - jedenfalls ein wild aussehender Vogel - mit einem hakenförmigen Schnabel und finster starrenden Augen, die auf mich gerichtet zu sein scheinen. Während ich auf dem Rücksitz kauere und versuche, ihren Blicken auszuweichen, holt Vater das Paket aus dem Kofferraum und läuft die Einfahrt hinauf. Die Haustür wird von einem der violetten Büsche verdeckt, aber einen Augenblick später taucht er wieder auf, und wir fahren weiter. Nachdem seine Besorgung erledigt ist., scheint Vater gesprächiger zu sein, und er erzählt mir, dass er mich an einen schönen Ort bringe, an einen seiner Lieblingsplätze, einen heiligen Ort namens Half Moon Street; er hoffe, dass ich bequeme Schuhe anhabe, weil wir ein Stück zu Fuß gehen müssen. Ich schaue auf meine Schuhe. Ich habe die Unpässlichkeit meiner Mutter ausgenutzt und meine weißen Lackledersandalen angezogen, die ich nur im Haus tragen darf, zu besonderen Anlässen. Normalerweise kann man sich darauf verlassen, dass Vater solche Details nicht auffallen. Ich erzähle ihm, dass sie äußerst bequem sind, was wahr ist, und bete, dass es dort keinen Schlamm gibt.
    Wir essen in einem Dorfpub zu Mittag. Wir sitzen im Garten, weil es ein sonniger Tag ist und weil Kinder nicht hinein dürfen. Vater ist äußerst penibel, wenn es darum geht, solche Verbote einzuhalten, und lässt mich nicht einmal im Pub aufs Klo gehen; stattdessen müssen wir im Dorf umhertrotten, bis wir eine Damentoilette finden.
    Wir essen beide Rindfleisch-Nieren-Pastete mit Pommes. Als ich fertig bin, stochert Vater in meinen Resten und isst die Dosenerbsen, die ich auf dem Teller zur Seite geschoben habe, und die Fleischbrocken, die ich als zu zäh oder knorpelig aussortiert habe. Ich probiere zum ersten Mal klare Limonade. Wie, will ich wissen, kann etwas, das wie Wasser aussieht, so gut schmecken? Vater beginnt mit der Erklärung von Aromen und Chemikalien, nimmt sich dann aber zusammen, als er mein Gesicht sieht, und fragt, ob ich noch ein Glas möchte. Er zündet seine Pfeife an, und als die
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