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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht
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ersten Rauchwolken zum Himmel ziehen, nehmen die Leute am Nachbartisch ihre Teller und verschwinden in die hinterste Ecke des Gartens. Seufzend klopft Vater seine Pfeife im Aschenbecher aus. Es ist so warm, dass ich mir meine Strickjacke um die Taille gebunden habe, aber Vater hat Hemd, Krawatte, Pullover und Jacke noch an. Er trägt immer eine Krawatte. Seine Garderobe ist einfach, und obwohl keins seiner Kleidungsstücke leger ist, ist auch keins richtig schick. Er friert leicht, was ungünstig ist, weil unser Haus praktisch ungeheizt ist: Jede Spur von Wärme kann einen von Mutters Migräneanfällen auslösen.
    Half Moon Street erreicht man durch tief liegende Wege. Die Bäume, seit kurzem grün, wölben sich wie ein Tunnel über uns, verdecken den Himmel. Überall um uns herum ist das scharfe, saure Grün des Frühlings. Es ist, als würde man sich in einen Apfel verkriechen. Wir müssen das Auto ungefähr eine halbe Meile entfernt auf dem Parkplatz eines Pubs stehen lassen und zu Fuß weitergehen; der Weg wird zu einem Feldweg, und ich muss aufpassen, damit ich nicht in Pfützen trete. Ab und zu muss Vater mich über große Schlammstreifen tragen. Wir steigen hinab in eine Senke, biegen um eine Ecke, und da ist es: Mein erster Blick auf Half Moon Street, überhaupt keine Straße, sondern ein moosgrüner Teich, von einer Krone aus Bäumen umgeben, mit einem winzigen Backsteincottage und einem Landungssteg auf einer Seite. Der Garten, ein Wasserfall aus blauen Wiesenglockenblumen und Vergissmeinnicht, reicht bis zum Ufer, wo ein kleines Holzboot an ein Schild gebunden ist, auf dem steht: BOOTFAHREN, ANGELN UND SCHWIMMEN VERBOTEN. Das Cottage ist offensichtlich bewohnt, denn die Fenster im ersten Stock sind geöffnet, und ich sehe Vorhänge flattern. Vor der Haustür stehen ein Kübel mit verblühten Osterglocken und ein grüner Stuhl, von dem die Farbe abblättert, mit einem Patchwork-Kissen auf dem Sitz und einem Buch über der Armlehne. »Als ich das letzte Mal hier war, war das Cottage leer«, sagt Vater. »Ich bin froh, dass es jetzt vermietet ist. Es schien mir eine solche Verschwendung zu sein.« Auf dem Teich schwimmen eine Ente und ein paar Entenküken. Nur ihre Haarnadelspuren stören die Symmetrie des Spiegelbilds der Bäume. Es ist so schön, dass es nicht real zu sein scheint.
    »Das ist ein Hammerteich«, sagt Vater und versucht mir etwas über Wasserräder und Eisenverhüttung zu erklären, aber meine Gedanken sind bereits abgeschweift, und ich höre bald nicht mehr zu. Ich schmiede Pläne, wie ich später hier wohnen werde, vielleicht mit einer Freundin. Ich weiß schon, dass es einer meiner speziellen Orte sein wird. Ich habe Vater nicht einmal gefragt, wie er ihn entdeckt hat. Es spielt keine Rolle; er gehört jetzt mir. Wir umrunden den Teich; Vater geht und ich renne, schlängele mich um die Bäume herum und hinunter ans Wasser. Auf einem Schild, das an einen Baum genagelt ist, steht: VORSICHT VIPERN, und als Vater es sieht, sagt er zu mir, ich soll aufpassen, wo ich hintrete.
    Als wir ungefähr eine Stunde später zum Auto zurückkommen, fällt mir auf, dass meine Sandalen schwarz vor Schlamm sind. Sie mit einem Taschentuch abzuwischen erweist sich als nutzlos - der Schmutz ist tief in die Naht eingedrungen, und das Leder ist von Zweigen zerkratzt. Sie sind ruiniert. Nachdem ich ein paarmal heftig geschluckt habe, breche ich in Tränen aus und plärre ein Geständnis heraus. Vater ist mitfühlend. Im Vergleich zu seinen eigenen Schuhen, die voll Schlamm sind, sehen meine ganz ordentlich aus, aber er weiß, dass kleine Mädchen und insbesondere erwachsene Frauen einigen Wert auf schickes Schuhwerk legen. Außerdem wird er von meiner Mutter zum Teil dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie verdorben sind, und deshalb sind Hilfsmaßnahmen erforderlich.
    »Wo habt ihr die gekauft?«, fragt er. Zwischen Schluchzern sage ich es ihm: Es ist eine billige Ladenkette, und er ist zuversichtlich, dass wir auf dem Heimweg eine Filiale finden und sie ersetzen können. In Dorking gibt es sie, aber nur in Beige. In Reigate haben sie meine Größe nicht. Wir stöbern schließlich gefährlich nahe an zu Hause ein Paar auf, und die Erleichterung ist riesig. Das alte Paar und die Verpackung der neuen Schuhe werden in einen Mülleimer geworfen, und ein Geheimhaltungseid wird geschworen. Vater versucht, den Betrug zu bagatellisieren, deutet aber an, dass ihm lieber wäre, wir würden es für uns behalten.
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