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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition)
Autoren: Margo Lanagan
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das er erledigen muss. Nur Grandma Paul erzählt manchmal ein bisschen, aber meistens zieht sie nur beleidigt die Augenbrauen hoch.»
    «Vielleicht findet sie es
langweilig
», stöhnte Billy. «Schließlich ist das ewig nicht mehr passiert.»
    «Niemand zwingt dich hierzubleiben, Billy», bemerkte Bee bissig. «Geh doch Fußball spielen, wenn du es bei uns so sterbenslangweilig findest.»
    «Viele sagen, es stimmt gar nicht – dass Mädchen aus Robben rausgekommen sind», meinte Lorel.
    «Wie sollte das auch funktionieren?», fragte Tatty. «Das wäre ja so, als ob eine Katze einen Hund zur Welt bringt oder ein Pferd eine Ziege.»
    «Dabei wird aber niemand geboren», erklärte Ann Jelly. «Es ist dasselbe Lebewesen. Nur die Haut fällt ab, und darunter kommt das Mädchen zum Vorschein.»
    «Ach, pfft!», machte Tatty. «Wer hat denn so was je gehört?»
    «Ich zum Beispiel», gab Grassy zurück. «Was stimmt denn wohl mit
deinen
Ohren nicht?»
    «Und man muss die Haut
verstecken
», sagte Bee düster. «Denn wenn sie sie findet, schnappt sie sich die Haut und verschwindet auf Nimmerwiedersehen, ganz egal, wie freundlich man zu ihr war und wie viele Kinder sie an Land bekommen hat.»
    «Sie lässt ihre
Kinder
zurück?», rief Ann Jelly, und auch ich war entsetzt. Ich wusste, dass Mum uns nicht mochte, aber dass sie uns verließ, konnte ich mir dann doch nicht vorstellen. Misstrauisch starrten wir die vollbusige Frau oben auf der Mauer an. Sie starrte ungeniert zurück.
    «Als hätte sie nie welche gehabt», fügte Bee hinzu. «Und sie kommt nicht mal zurück, um sie zu besuchen.»
    «Was für schreckliche Wesen», sagte Lorel. «Was sollte ein Mann bloß mit so einer wollen?»
     
    Ann Jelly und ich saßen zusammen mit Gerty in der Sonne auf der Treppe zu Strangleholds Haus.
    «Rutscht mal beiseite», sagte Gertys Mum. «Ich muss runter zu Mays, Eier kaufen. Bleibt hier sitzen, bis ich zurück bin, Gerty. Ich will mir nachher nicht vorwerfen lassen, dass mir Prouts Nesthäkchen entwischt ist.»
    Wir ließen sie vorbei und sahen ihr nach, wie sie die Straße entlangeilte. Sie blieb kurz stehen, um Ardle Staines’ Mum zu begrüßen, dann lief sie weiter und verschwand hinter der Ecke.
    «Kommt, ich zeig euch was.» Gerty rappelte sich auf.
    Ann Jelly blickte mich an, zog die Augenbrauen hoch und sprang auf.
    Nach dem Sonnenschein draußen konnte ich im Haus erst nur das hintere Fenster erkennen. Das Elternschlafzimmer war ganz finster; daraus drangen das Gelächter und die zischelnden Laute der beiden Mädchen hervor. Ich trat hinein und wartete, bis ihre Umrisse allmählich erkennbar wurden. Zwei Schattengestalten beugten sich über eine geöffnete Truhe an der Wand.
    «Bringt nichts durcheinander», mahnte Gerty. «Es ist dahinten. Haltet die Kleider und Decken weg, damit nichts auf sie überspringt.»
    Sie schien die Rückwand der Truhe mit den Händen zu lösen und hob sie hoch. Dann dreht sie sie um, und ich erkannte den Draht, mit dem das Bild einmal an der Wand gehangen hatte, und die gläserne Vorderseite, in deren eingefangenem Licht sich der Vorhangsaum spiegelte.
    Sie beugten sich über das Bild.
    «Es ist eine Person», sagte Ann Jelly.
    «Eine Dame», sagte Gerty.
    «Ich kann nichts sehen», sagte ich.
    Gerty zog die Vorhänge ein wenig auseinander. Ich schob mich näher heran, neben Ann Jelly. Groß und dunkel blickten die Augen der Dame aus ihrem Gesicht heraus. Sie sah aus, als stünde sie unter Schock, und geistesabwesend starrte sie an uns vorbei, als warte sie auf eine Erklärung für das Erlebte.
    «Wer ist das?», fragte Ann Jelly.
    «Eine Vorfahrin.»
    «Aber sie sieht keinem von euch ähnlich! Niemand von euch hat solche Augen oder Haare.»
    «Ja, das verblasst ziemlich schnell, sagt Mum. Dann setzt sich der rothaarige Typ wieder durch – Gott sei Dank, sagt sie.»
    Diesen Mund hatte ich schon einmal gesehen. Ich hatte ihn vor dem Spiegel abgetastet; ich hatte die Lippen fest aufeinandergepresst, so wie ich es jetzt tat, damit sie nicht so auffielen. Aber mit
diesem
Gesicht wären sie wunderschön gewesen; sie hätten zum Rest gepasst und wären nichts, wofür ich mich schämen musste.
    «Warum hängt sie denn nicht bei euch an der Wand?» Ich griff nach dem Porträt und rüttelte an dem Draht. «Ist doch alles dran, um sie aufzuhängen.»
    «Sie ist ein Geheimnis, sagt Mum. Sie ist unsere größte Schande. Sie muss versteckt bleiben.»
    «Wie heißt sie denn?», fragte Ann Jelly.
    «Das
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