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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition)
Autoren: Margo Lanagan
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Großmutter. «Prout-Männer sollten in fortgeschrittenem Alter keine Kinder mehr zeugen. Prout-Frauen auch nicht. In ihren späten Jahren schlagen sie nämlich um, und das Ergebnis sind fehlgestaltete Visagen wie bei der hier, hinter denen sich wer weiß was verbirgt.»
    «Oh Mum!» Tante Baxters Lachen schraubte sich in noch schwindelerregendere Höhen hinauf. «Jetzt ist Froman extra hergekommen, um dich vor deiner ewigen Ruhe noch einmal zu sehen, und du guckst nur auf seine Kinder und machst sie schlecht!» Doch aus dem Gesichtsausdruck, mit dem sie mich ansah, sprach Bestürzung. Ich hob eine Hand vors Gesicht und betastete meine Nase und meinen Mund. Doch es waren dieselbe Nase und derselbe Mund wie immer; sie hatten nichts Neues oder Ungeheuerliches an sich.
    Nur Dad wurde erlaubt, Großmutter einen Abschiedskuss zu geben. Nicht, dass irgendjemand von uns es auch nur ein bisschen bedauert hätte, die Lippen nicht auf diese runzelige Wange zu drücken. Bestimmt war sie eiskalt, dachte ich. Bestimmt roch sie nach Bohnerwachs oder Pilzen.
    Dann waren wir entlassen. Dad schlich schweigend die Straßen entlang, doch wir anderen waren froh, wieder draußen im Freien zu sein. Billy hob sogar ausnahmsweise mal den Kopf, und die Mädchen hüpften bei jedem Schritt.
    Tatty beäugte mich, während ich an Mums Hand ging. «Auf unsere Missk hatte sie’s aber wirklich abgesehen, was?»
    «Psst, Tatty», sagte Mum, und Dad schnalzte missbilligend mit der Zunge. Doch schon riefen Grassy und Lorel: «Ja-a! Missk und ihr komisches Gesicht!»
    «‹Fehlgestaltet› hat sie es genannt.» Nun maß mich auch Ann Jelly mit Blicken. «Was sie damit bloß gemeint hat?»
    «Ich fand schon immer, dass Missk irgendwie anders aussieht.» Tatty sauste seitlich an uns vorbei. «Als ob sie nicht zur selben Familie gehört.» Jetzt starrten mich alle an. Ich zog das Gesicht in die Länge, damit meine Andersartigkeit nicht so deutlich hervortrat.
    «Das
reicht
jetzt», sagte Mum. «Ihr hört doch wohl nicht auf eine sterbende Frau, die mich und meine Kinder schon immer gehasst hat? Natürlich hatte sie was an uns auszusetzen! Und wer wäre ein willkommeneres Opfer als die Kleinste von allen!»
    «Gussy», mahnte Dad.
    «Behaupte bloß nicht, dass es nicht stimmt», sagte Mum. «Sie wird uns nicht vermissen, und ich werde ihr auch keine Träne nachweinen.»
    Er zuckte die Schultern und wandte den Blick ab, und damit schien die Angelegenheit erledigt. Doch Mum sah keinmal zu mir herunter, und ihr Griff um meine Schulter war fest und unangenehm, als müsste man mich bestrafen und nicht trösten.
     
    «Siehst du?», fragte Bee.
    «Nein», sagte Tatty. «Welcher Stein soll es denn überhaupt sein?»
    Ich sah auch nichts. Ich stellte mich etwas weiter weg von der Mauer, die den Klostergarten umgab. Im schrägen Licht sahen die klumpigen Steine über dem Tor noch durcheinandergewürfelter aus als sonst.
    «Der Robbenkopf von dem Mädchen ist zu
der
Seite da runtergefallen.» Lorel deutete erst nach links, dann nach rechts. «Siehst du ihre Robbenhaut? Die drei Linien da, sie laufen erst vorn zusammen und enden dann hinten in der kleinen Schwanzflosse.»
    «Die Schwanzflosse ist ganz schön verwittert», sagte Bee.
    «Ach,
das da
soll der Schwanz sein?», fragte Tatty zweifelnd.
    «Das Mädchen steigt aus der Haut raus, seht ihr? Und die wunderschönen Haare … das sind diese vielen Wellen da. Wobei Oma Paul immer meinte,
ihre
Oma hätte erzählt, sie hätten ganz glatte Haare gehabt, flach wie ein Brett, kein Wirbel oder Löckchen weit und breit.»
    «Sie hat einen großen Kopf», sagte ich. «Und fast gar keinen Körper.»
    «Siehst du, Tat? Sogar Missk kann sie erkennen», sagte Grassy.
    «Einen großen Kopf und Busen», bemerkte Billy, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte und auf einem Grashalm herumkaute. Lorel lachte dreckig. Die runden Steinbrüste und die Spuren, die der Meißel um die Brustwarzen herum hinterlassen hatte, sprangen mir ins Auge. Mein Gesicht lief heiß an. Dass jemand wirklich so was gestaltet hatte – sodass es alle sehen konnten!
    «Sie sieht nicht so aus, als wäre sie besonders glücklich darüber, hier bei uns zu leben», meinte Tatty.
    «Nein, das waren sogar richtige Jammergestalten, haben immer alle gesagt», sagte Grassy.
    «Alle?», fragte Bee. «Wer hat dir das gesagt? Mit mir hat noch nie jemand länger darüber geredet. Mums Mund schnappt sofort zu wie eine Mausefalle, und Dad findet garantiert etwas,
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