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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition)
Autoren: Margo Lanagan
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Tiere. Bestimmt wäre ich vor Abschiedsschmerz in Tränen ausgebrochen, wenn ich nicht so damit beschäftigt gewesen wäre, sie anzustaunen – ein Flossenschlag hier, eine lebende Woge dort, ein Kopf, der sich reckte, um uns nachzusehen.
    Wir gingen nach Hause und tranken wie gewöhnlich Tee und aßen dazu Brot; das Geschirrklappern und die Gespräche wurden zwischen den Küchenwänden gefangen gehalten – was für ein Unterschied zu der wogenden, freien Welt dort draußen, zu Wind und Sonne. Eingepfercht saß ich zwischen Tatty und Grassy Ella hinter meiner riesigen Teetasse.
    Und du hättest Missk mal bei den Robben sehen sollen, Mum, unten in der Crescent Cove!,
rief Lorel über den Tisch hinweg. Hoffnungsvoll blickte ich von meinem Brot auf. Wenn sie von mir sprachen, verschwand manchmal der harsche Ausdruck aus Mums Gesicht. Manchmal lächelte sie mich sogar an.
    Ach ja?,
sagte Mum, goss Tee ein und stellte die Kanne ab. Sie sah mich an, und als Lorels Worte bei ihr durchsickerten, nahm ihr Gesicht einen noch verkniffeneren Zug an. Hinter meiner Tasse beobachtete ich sie erst aus dem einen, dann aus dem anderen Auge.
    Sie konnte sich gar nicht an ihnen sattsehen!,
rief Bee, die ich von meinem Platz aus nicht erkennen konnte.
Am liebsten wäre sie zwischen ihnen durchgekrabbelt. Wir haben sie natürlich nicht gelassen.
Jetzt klang sie nervös. Sie musste Mums Blick bemerkt haben.
    Es stimmt, sie war wirklich von den Robben begeistert
, sagte Ann Jelly entschuldigend.
Ich hab vorher noch nie erlebt, dass sie von irgendwas so beeindruckt war …
    Seltsam
, sagte Mum.
War außer euch sonst noch jemand in der Bucht?
    Auf Mums laute Stimme hin entstand eine angsterfüllte Pause. Dann brachte Bee zaghaft hervor:
Nein, nur wir sechs.
    Nur wir sechs und tausend Robben,
sagte Grassy überrascht und zerkrümelte ihr Brot.
    Gut
, sagte Mum.
Lasst Missk nicht aus den Augen, wenn ihr noch mal in die Nähe dieser Viecher kommt.
Sie ließ mich selbst nicht aus den Augen.
Und erzählt bloß niemandem, dass sie so begeistert von ihnen ist. Das braucht niemand zu wissen. Habt ihr mich verstanden?
    Keiner von uns sagte einen Ton. Grassy blickte zu mir herab. Ich rang meinem Gesicht ein zerknirschtes Lächeln ab, doch Grassy lächelte nicht zurück.
    Ja, Mum
, antwortete Bee.
     
    Großmutter Prouts Haus roch alt, und wegen all der Jahre, in denen es niemanden außer Großmutter beherbergt hatte, war es von Finsternis durchdrungen. Sie hatte niemals Gesellschaft gewollt, sagte Dad, sondern sich in ihrem Haus von allen abgeschottet, selbst von uns, ihrer Familie. Hätte sie die Wahl gehabt, hätte sie sich wohl auch jetzt noch abgesondert, aber nun, wo sie so schwer krank war, hatten Tante Baxter und Tante Roe genügend Vorwände gefunden, um sich ins Haus zu drängen und das Zepter zu schwingen. Sie waren es auch gewesen, die uns hergebeten hatten. Es wäre das letzte Mal, dass Großmutter uns noch empfangen könnte, hatten sie gesagt.
    Tante Rose ließ uns in der zugigen Stube Platz nehmen. Ein Wandschirm verdeckte die erloschene Feuerstelle; an der Wand ragte eine düstere Anrichte empor. Mum und Dad hockten auf der Kante des seltsam langen Sofas. Die Anstecknadel an Mums Schultertuch saugte alle Helligkeit im Zimmer in sich auf, sodass der Rest der Familie im Dämmerlicht sitzen musste. Ihre frisch zurückgekämmten Haare boten ihr Gesicht der Kälte dar. Ich trug ein Kleid, das Tatty mir kürzlich vermacht hatte und das mich umschlabberte, mich nicht richtig zusammenhielt; kalte Luft kroch unter dem Rock herauf. Ich kletterte zwischen Mum und Dad und stahl ihnen ein wenig von ihrer Wärme.
    Niemand gab einen Ton von sich; das war beunruhigend. Keins der Mädchen tuschelte, und darum hatte Billy niemanden, den er anzischen konnte. Gebannt lauschten wir den Geräuschen, die aus dem Krankenzimmer zu uns herausdrangen, dem Geklapper und den Schritten, dem Gemurmel der Tanten, der Stille aus dem Bett. Wir Kinder kannten Großmutter Prout kaum. Ann Jelly erinnerte sich, sie einmal vor Fishers Laden gesehen zu haben, wo sie vom Wind zerzaust herumgezetert hatte (
Sie schien nicht einmal zu wissen, dass ich mit ihr verwandt bin!)
. Billy, Bee und Lorel hatten sie einmal in einem Lehnstuhl sitzen sehen – vielleicht in dem Sessel mit den braunen Blumen da drüben. Ich hatte keine Ahnung, wer sie war, wie sie aussah, ob ich sie mögen oder Angst vor ihr haben sollte. Doch ihr Sterben schien ausgesprochen wichtig zu sein – so
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