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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition)
Autoren: Margo Lanagan
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weiß niemand mehr, sie ist schon so lang aus unserer Familie verschwunden. Ist sie nicht wunderschön?»
    «Sie sieht aus wie eine spanische Königin», sagte Ann Jelly gedankenverloren. «Wie die aus Mr. Wexfords Märchenbüchern oben in der Schule.»
    «Ja!», stimmte Gerty erfreut zu. «Vielleicht war sie damals eine Königin, da unten im Meer.»
    Sie zogen die Vorhänge weiter auf und betrachteten die Dame eingehend aus der Nähe. «Wie schmal ihre Hände sind», staunte Ann Jelly.
    «Sie haben sie ein bisschen lächeln lassen, seht ihr das?», fragte Gerty und fuhr mit dem Finger über die gemalten Lippen, sodass ich mir schnell auf die eigenen biss. «Ihre Augen sehen aber trotzdem traurig aus.» Sie verdeckte die geschwungenen Lippen der Dame; klagend blickten ihre Augen seitlich unter Gertys Hand hervor.
    «Wir müssen sie wieder verstecken. Mum darf nicht wissen, dass ich sie euch gezeigt habe. Ihr dürft nichts verraten – Misskaella verrät nichts, oder?»
    «Nicht wenn ich’s ihr verbiete», sagte Ann Jelly und blickte mich durchdringend an.
    «Ich sag nichts.» Doch sie hätte mir gar nicht drohen müssen. Mir fehlten die Wort- und Weltgewandtheit, um diese spanische Königsdame zu beschreiben oder um zu erklären, wie fremd und zugleich vertraut sie mir war.
    Sie ließen das Bild wieder hinter die Decken gleiten und klappten den Deckel zu. Ich tat so, als würde ich ihnen dabei helfen, dabei war ich zu klein, um mich tatsächlich nützlich machen zu können. Ich wollte mir nur nicht die Gelegenheit entgehen lassen, das Holz anzufassen, das so alt war und so reich verziert – wie geschaffen als Versteck für ein Geheimnis. Meine kleine rundliche Hand wirkte auf den geschnitzten Blumen absolut ungehörig. Ruckartig zog ich sie weg.
    Wir gingen nach draußen und setzten uns wieder hintereinander auf die Treppenstufen. Wir wechselten kaum ein Wort miteinander, bis Gertys Mum zurückkam und sagte, wir säßen dort wie aufgereihte Äffchen. Wie befreit sprangen wir auf, um zu spielen. Erleichtert hüpften wir unserer Ungezogenheit, Beklommenheit und dem Blick der Dame auf dem Bild davon.
     
    Einige Monate nach meinem neunten Geburtstag wachte ich eines Morgens auf und stellte fest, dass sich alles um mich herum dehnte und streckte, als wäre die Welt ein brodelnder Topf Wasser, dessen Deckel jemand abgehoben hatte, sodass der Dampf ungehindert entweichen konnte. Ich bin bestimmt krank, dachte ich, doch ich hatte nirgendwo Schmerzen, mein Magen war ruhig, und ich konnte aufstehen und ganz normal herumgehen. Außer mir schien niemand zu bemerken, wie vergrößert und verstärkt alles geworden war, wie das Wesen aller Dinge in meinem Herzen herumflatterte und umherwogte. Meine Schwestern schnatterten miteinander wie jeden Tag und trieben mich an, damit ich mich beeilte.
    Als ich zur Tür hinaustreten sollte, um zur Schule zu gehen, zitterte ich innerlich vor Angst wie eine Feldmaus, die unter einem schützenden Stein hervorgescheucht wird, während am Himmel eine Schar bedrohlicher Habichte kreist. Niemand schien auch nur zu ahnen, welch enorme Willenskraft es mich kostete, vom Hausflur auf die erste Treppenstufe hinauszutreten. Draußen angekommen, fühlte ich mich für einen Augenblick wie eine Königin; würdevoll war ich meinem Palast entschritten und wurde von meinen Untertanen jubelnd empfangen, weil ich ihrer Welt Ehre erwiesen hatte, indem ich in sie eingetreten war; doch schon war ich wieder die jämmerliche Misskaella, die Wände und Schornsteine um mich herum zuckten und flackerten, anstatt still dazustehen, wie es sich für sie gehörte.
    Ich folgte den anderen in einigem Abstand, ihren gebeugten Rücken beim Aufstieg, ihren Kopfdrehungen beim Sprechen; jetzt lachten sie – blasse Gesichter über den abschüssigen feuchten Pflastersteinen. Wie gut sie es hatten, nicht den Verstand zu verlieren wie ihre Schwester!
    «Jetzt hör endlich auf, so rumzutrödeln, Missk!», rief Tatty mir zu.
    Immer wieder musste ich mich mit eigenen Augen überzeugen, dass kein wirklicher Wind die Luft verzerrte oder verbog. Ich fürchtete jeden Moment, mein Körper würde erfasst und hoch hinausgeschleudert werden oder sich Körnchen für Körnchen in dem unsichtbaren Wind dort oben auflösen. Bestimmt würde mein Verstand in Kürze kollabieren, weil er all das mit ansehen musste, weil er durch die Haut der Dinge hindurchsehen konnte, bis zu den Knochen und ins Fleisch hinein, bis zum böigen Atem und pumpenden
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