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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition)
Autoren: Margo Lanagan
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Blut. Bestimmt würde ich sterben oder einen schrecklichen Anfall bekommen. Zum ersten Mal sah ich das wahrhaftige Leben, und die Wahrhaftigkeit drohte mich zu überwältigen; kein Mensch konnte einen solchen Anblick länger ertragen – und ein neunjähriges Mädchen sollte ihn
überhaupt nicht
ertragen müssen. Welche Macht in jedem Pflasterstein brodelte, in jedem Staubkorn dazwischen! Schritt für Schritt und in kleinen Häppchen löste sie sich heraus, Moos kroch hier und da in die Ecken, ein Schuljunge eilte den Weg entlang, um sich zu uns zu gesellen, sein Gruß ein schwaches Piepen in dem Grollen-das-kein-Grollen-war! Oh, der Himmel! Ich war dankbar für die Wolken, das gedämpfte Licht, denn meinem furchtsamen Blick kam es vor, als hielten sie dieses andauernde Ereignis im Zaum, obwohl eine andere, neue, wagemutigere Misskaella hinter diesen Augen bereits begriff, dass ein paar Wolken diesem wild entschlossenen Aufflackern nichts entgegenzusetzen hatten. Es würde trotzdem hervorgesprungen kommen, emporgewuchtet von den darunterliegenden Kräften.
    Das Schulgebäude stand so felsenfest und fürchterlich da wie eh und je, inmitten einem Meer aus Kindern, die aufgeregt umherschwirrten und beinahe sichtbare Schreie von sich gaben. Die Glocke läutete, ihr Klingen kräuselte die Luft, verschmolz mit der Energie, die von unten heraufquoll, und flog in leuchtenden Kringelbändern ins Grau hinein.
    Drinnen züngelten die Flammen meines Verstandes den ganzen Tag über an der Welt, ohne sie zu verbrennen; Winde heulten und bewegten doch nichts, trugen nichts mit sich fort. Jede Handlung, jeder Gegenstand innerhalb des winzigen Klassenzimmers war mir ein Rätsel – Mr. Wexfords unerschütterliche Selbstsicherheit, unsere eigene Bereitwilligkeit mitzusingen, uns dieses vorzustellen und jenes auf unsere Schiefertafeln zu schreiben. Zeitweise gab die feste Beschaffenheit aller Dinge nach, und das Schulgebäude schien aus Traum-Materie errichtet worden zu sein, verputzt mit Illusion; die massiven Pulte schienen genau wie alles andere Gefahr zu laufen, hochgeschleudert und über den Himmel verteilt zu werden. Wann würde ich endlich den Anfall oder die Ohnmacht erleiden, die all dem ein Ende setzte?
    Am Nachmittag watete ich zu Hause durch die glitzernde Luft und benutzte all die schillernden Gegenstände, die ich zum Ausführen meiner Hausarbeiten benötigte. Als ich alles erledigt hatte, rief ich Bee zu: «Ich geh runter in die Stadt, ein bisschen an der Mole spazieren, falls Mum fragt.»
    «Ja gut», murmelte Bee vom Bett herüber, die Nase in einem Buch vergraben. Ich hatte absichtlich ihr Bescheid gesagt, weil sie die zerstreuteste meiner Schwestern war, bei der zudem die geringste Gefahr bestand, dass sie mir eine weitere Arbeit aufdrückte oder mich unbedingt begleiten wollte.
    Ich trat aus dem flimmernden Haus hinaus. Draußen erschauderten die Pflastersteine und Häuser, Regen spie umher, und die Wolken funkelten zornig; die Luft war bitterkalt, ohne jedes Frühlingsversprechen. Ich ging bergab durch das Dorf, Augen und Ohren in Alarmbereitschaft, von Kopf bis Fuß mit Gänsehaut überzogen. Ich zwang mich, langsam zu gehen, obwohl ich am liebsten gerannt und mit dem großen Hüpfen dort um die Wette gehüpft wäre, es anfeuern und von ihm angefeuert werden wollte.
    Um Bee nicht angeschwindelt zu haben, ging ich tatsächlich über die Mole, einmal bis zum Ende und wieder zurück. Meine Augen belogen mich: Sie behaupteten, das Dorf säume das Gebiet oberhalb des Hafens, so wie immer. Doch mein Inneres beharrte darauf, dass die Häuser gemächlich bergauf kletterten und dass mich eine farblose Materie von ihrem mühsamen Aufstieg trennte, von den winzigen funkelnden Fenstern, den vielen Augen des Dorfes. Hinter mir und um mich herum bebte der Horizont im aufsteigenden Wind, als stünde das Meer kurz davor, aus seinem Becken herauszubrechen und für immer zu verschwinden.
    Ich folgte dem Hauptstrand in nördlicher Richtung, damit niemand von Potshead aus sehen konnte, was ich vorhatte. Sobald ich mich aus der Sichtweite des Dorfes entfernt hatte, bog ich in den aufsteigenden Dünenpfad ein, der an Thrippences Hütte vorbeiführt, kämpfte mich weiter vorwärts über den glitschigen Sand. Querfeldein stapfte ich über McCombers Felder; keine Menschenseele ging dort die Straße oder den Hügel entlang, nur McCombers wiederkäuende Kühe glotzten mich an. Ganz oben kletterte ich über den Zauntritt, dann hatte ich
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