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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition)
Autoren: Margo Lanagan
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die gerade Straße erreicht. Ich fing an zu laufen; ich war kaum noch gelaufen, seit die Leute über meinen Anblick lachten, doch jetzt – oh, wie wunderbar es war, ganz allein zu sein und keine abwertenden Blicke auf mir zu spüren! – flog ich beinahe vorwärts und fühlte mich dabei weder unbeholfen noch lächerlich. Kalt und übermütig spie mir der Regen ins Gesicht; die Straße, die vor mir lag, schien ebenso glücklich darüber wie ich, menschenleer zu sein; zu beiden Seiten, oben auf der Hügelkuppe und weit draußen über dem Meer, fing das ausgeschüttelte Tuch der Schöpfung hier und da leuchtendes Feuer; die Flammen stiegen eilig empor, verschwanden und wurden von unten neu gespeist.
    Als ich mich dem Felsvorsprung näherte, wurde ich langsamer, dann spähte ich hinüber. Wie Garnrollen in einer Schublade lagen die Robben dort unten, grau und silbern, beige und braun, einige gefleckt, andere nahtlos einfarbig von der Nasen- bis zur Schwanzspitze. Die tiefbraunen Babyrobben bewegten sich unternehmungslustig zwischen ihren faulenzenden Müttern umher. Mir fiel wieder ein, wie ich selbst als Baby herumgerobbt war; genau wie damals verspürte ich auch jetzt den starken Drang, die Klippen hinunterzuspringen und unten inmitten der Robben zu landen. Die fontänenartige Luft würde mich doch sicher halten, mich wie ein Weidenboot auf einer Welle tragen?
    Stattdessen eilte ich schwesternfrei und allein am Rand der Bucht entlang. Ich begann den Abstieg über den Klippenpfad, und es fühlte sich an, als wäre ich in ein wärmeres Wasserbecken gestiegen oder in einen anderen Windeinfall geraten. Ich berührte meine Haare, die vom natürlichen Wind nur noch leicht verweht wurden, während der vorherige Luftstrom sie unerbittlich nach oben gezerrt hatte.
    Auf halbem Weg nach unten blieb ich stehen, weil in der Jungtierkolonie Unruhe aufgekommen war. Der Bulle und die jungen Männchen hatten das Kämpfen im seichten Wasser hinter der Robbenherde eingestellt und beobachteten aufmerksam, wie ich mich ihnen näherte. Immer mehr Robbenmütter reckten die Hälse. Langsam ging ich weiter den Pfad entlang. Je näher ich ihnen kam, desto deutlicher erkannte ich, dass ihre plumpen perlmuttartigen Pelzkörper – und sogar die zarten Flossen und Schwanzflossen – von Sternen, Samen und Körnchen überzogen waren, die wie Blüten ein Frühlingsfeld bedeckten und miteinander verbunden werden konnten. Wenn die Zeit, Gezeiten und Umstände es erlaubten, konnte ich sie dazu bringen, sich im Mittelpunkt der Robbe zu vereinen und den Umriss eines Mannes oder einer Frau zu bilden. Mir wurde klar, dass die Figur auf der Klostermauer, die Frau, die der Robbenhaut entstiegen war, keinem Hirngespinst entstammte und dass alle Informationen, die Potsheads Bewohner so bruchstückhaft preisgaben, genau wie diese Körnchen zusammenpassten und eine Geschichte ergaben. Eine Geschichte, die sich wiederholen konnte, wenn der Zufall wollte, dass jemand wie ich daherkam. Ich hatte es gewusst und es doch nicht gewusst. Ich war überrascht, obwohl mit einem Mal so viele Fragen beantwortet waren.
    Ich stand von Energie umwogt im schattigen Eingang zur Bucht. Ich biss die Zähne zusammen und trat vom Pfad auf den Felsen; ich hob den Blick und sah den Robben in die Augen.
    Der Leitbulle unten im seichten Wasser warf brüllend und knurrend den Kopf hin und her. Die rastlosen Mütter richteten sich mit Hilfe ihrer Flossenspitzen auf und musterten mich argwöhnisch; eine oder zwei heulten auf; zwischen ihren weichen vibrierenden Hügeln und Tälern kämpften sich die tiefbraunen Robbenbabys hindurch und purzelten weiter vorn auf die feuchten purpurfarbenen Felsen. Sobald sie mit ihren Flossen festen Grund ertastet hatten, stürmten sie auf mich zu wie Schafe, die über ein verschneites Feld auf einen frisch abgelegten Heuballen zulaufen, oder Schweine, die beim Geklapper eines Eimers voller Essensreste durch den Stall angeprescht kommen.
    Einige der Mütter walzten ihnen auf die Flossenspitzen gestemmt hinterher, schoben sich wogend über die Felsen. Was würden sie tun, wenn sie bei mir ankämen? Der Feuereifer und die Unbeholfenheit der Babyrobben beunruhigten mich – und wie groß die Mütter waren! Ob sie mich umzingeln und zerquetschen wollten? Liebten oder hassten sie mich? An ihren schwarz schimmernden Augen konnte ich es nicht ablesen, ebenso wenig an ihrer welligen Haut, den rosafarbenen klaffenden Mäulern und den undeutlichen schroffen
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