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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition)
Autoren: Margo Lanagan
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‹gnädige Frau›, du halbe Portion!»
    Wieder fuhren wir zusammen.
    «Zieht schon weiter, alle miteinander, und hört auf zu gaffen!», fauchte die Hexe. «Was gibt’s hier schon zu sehen? Ihr findet mich hässlich? Das sind eure Väter auch und einige von euch genauso. Schau mal in den Spiegel, Baker junior, dein Gesicht sieht aus wie ’ne Faust. Ich sitz allein hier draußen rum? Na und? Ihr glaubt wohl, alle Frauen müssten solche feinen Meerdamen sein wie eure Mums, die immer nur in Grüppchen durch die Gegend spazieren. Steht hier rum und haltet Maulaffen feil wie Schaulustige bei einer Hinrichtung! Geht mir aus den Augen, bevor ich euch alle in Decken einwickle, festzurre und im Meer versenke!»
    Das ließen wir uns nicht zweimal sagen.
    «Bei der weiß man nie, woran man ist», murmelte Grinny, während wir davonhasteten.
    «Hast dich wacker geschlagen, Grin», sagte Raditch. «Ist mir schleierhaft, wie du auch nur einen Ton rauskriegen konntest.» Kit achtete genau darauf, dass der dicke Batton Baker immer zwischen ihm und der alten Krähe blieb.
    «Manchmal ist sie ganz gut gelaunt und redet normal, und dann ist sie wieder richtig wütend, so wie jetzt.»
    «Manchmal sitzt sie auch einfach nur da und heult vor sich hin, und dann hat man überhaupt keine Angst», sagte Raditch. «Aber nur wenn sie vorher ein paar Gläser gekippt hat.»
    Von da an verlief unsere Suche viel erfolgreicher, und als wir fertig waren, machten wir auf dem Weg zum Klippenpfad einen weiten Bogen um Misskaella.
    «Von hinten ist sie nicht halb so furchtbar», flüsterte ich. Jetzt war sie nur ein dunkler Hügel neben den anderen Haufen Seegras, hinter dem in regelmäßigen Abständen der Haken ihrer Häkelnadel aufblitzte.

Misskaella Prout
    J a, Misskaella, Robben! Seht ihr, sie ist ganz verliebt in die Tiere!
    Die Robben glänzten in der Sonne. Ich wollte auf sie zukriechen, aber Bee hielt mich am Knöchel fest, und ich kam nicht weiter. Neben meinen Ohren wiegten sich rosafarbene Blumen auf langen Stängeln. Ich hatte noch nicht genug Verstand, um zu begreifen, dass die Felsen dort vorn steil abfielen. Ich dachte, die Robben lägen direkt vor mir auf dem Boden, hielt sie für geschmeidig-glatte wimmelnde Würmer oder Tausendfüßler. Ich glaubte, ich könnte einfach eine Handvoll von ihnen fangen und sie so verstehen lernen, wie ich alles verstehen lernte: indem ich sie mir in den Mund steckte.
    Ann Jelly trug mich den Zickzackpfad die Klippe hinunter, und ich schaukelte in der gekippten, steilen Welt vor und zurück. Je weiter wir hinunterkamen, desto klarer nahm ich die Robben wahr. Sie waren so groß wie erwachsene Menschen; sie waren sogar noch größer. Und noch immer streckte ich die Hand nach ihnen aus. Ich reckte mich über Ann Jellys Schulter zu ihnen hinüber, und als sie sich umdrehte, reckte ich mich an ihrem Gesicht vorbei.
    Schaut mal, sie hat überhaupt keine Angst vor ihnen,
sagte sie.
    Die würden einfach über dich drüberrollen und dich zerquetschen, Missk, da können sie dich mit ihren großen Augen noch so lieb angucken.
    Wie die stinken!
    Der Leitbulle, der da unten gegen die anderen kämpft, ist das nicht das hässlichste Vieh, das ihr jemals gesehen habt?
    Ich sah den Bullen nicht einmal vor lauter Robbenmüttern, die ganz in meiner Nähe lagen, und ihren Babys, die jaulend zwischen ihnen umhertollten.
    Ich hatte nichts gegen ihren Geruch; für mich war er eins mit ihrem Zauber. Die Mütter sahen warm aus; ich wollte über ihre hügligen Rücken klettern, die so viel weicher aussahen als die vielen Felsen oder die scharfkantigen Strandschnecken, die ich zuvor erkundet hatte. Und sie waren so viel freier – nicht wie ich, die ich fest an Ann Jellys Seite gepresst hing und nicht dahin getragen wurde, wo ich hinwollte. Warum hielten wir so viel Abstand? Warum setzte sie mich nicht auf den Boden, damit ich auf die Robben zukrabbeln und zwischen ihnen herumklettern konnte? Warum schlug Bee schon den Rückweg ein, wo wir doch gerade erst ein einziges Mal – und in viel zu großer Entfernung – an der Herde vorbeigegangen waren? Warum mussten wir wieder zu den robbenlosen Orten dieser Welt hinaufsteigen? Wir hätten sie doch anfassen können! Vielleicht wurden sie gern gestreichelt, so wie Hunde und Katzen. Vielleicht wären ihre Jungen auf uns zugerobbt und hätten mit uns gesprochen! Ich stemmte mich auf Ann Jellys Schulter so weit wie möglich nach oben, blickte hinab auf die immer kleiner werdenden
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