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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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nachzustudieren, ihren Eindruck zu verbreitern und zu vertiefen.
    Wie verwöhnt wir alle sind mit der Qualität des Abgebildeten und wie flüchtig und unachtsam wir damit umgehen! Hat Vater Goethe nicht seinen Sohn wieder und wieder klassische Bildwerke abzeichnen lassen, damit er sich einprägte, wie sie aussahen? Und erst lange danach durfte er nach Italien reisen.
     
     
     

19 . April
     
    Um meinetwillen versteckten die Eltern die Ostereier im Brannenburger Garten erst nach dem Frühstück, wenn der Tau aus dem Gras war und die Chance, daß der Dackel darüberkam, geringer. Im rosa Kleid mit weißen Plattstichpunkten, ein spezielles Osterkörbchen in der Hand (es lebt noch, ich habe jetzt Schlüssel drin), lief ich strahlend herum, suchte, schrie, sammelte und lutschte. Nur am Ostermorgen habe ich wohl wirklich gesehen, wo die Blumen standen, die Spalierbäume, die noch kahlen Rosenbüsche. Blieben wir des Wetters wegen in der Stadt, so gewann beim Eiersuchen die Wohnung ein neues Gesicht: Möbelvertiefungen, hölzerne Arabesken, bisher unbeachtete Vorsprünge, alle spielten mit. (»In den Schubladen gilt nicht, Mausi!«)
    Erst als ich zehn Jahre alt war, wurde Ostern wieder russisch gefeiert, wie vor meiner Geburt. Ein bißchen unausgeschlafen und sehr feierlich gestimmt erschien man am nächtlichen Ostertisch. Die warmen flackernden Kerzen ließen die Ecken des Zimmers im Dunklen und gaben der teemützenförmigen Osterspeise, dem hohen Kuchen und den bunten Eiern geheimnisvollen Glanz. Selten habe ich meine Familie so geliebt wie in dem Augenblick, wo wir einander strahlend mit dem dreifachen Kuß und dem russischen »Christ ist erstanden« begrüßten. Irgend etwas Finsteres war zu Ende, etwas begann neu. Meine Tante trug, nur für diesen einen Tag, eine Kette mit eiförmigen Halbedelsteinanhängern, die irgendwie mit dem bärenstarken Zaren Alexander III. zu tun hatte, wie, habe ich vergessen. Der Anblick dieser Kette gehörte genauso zum Fest wie das Geschmacksdurcheinander von Salz, Ei und mandelstrotzender Osterspeise auf dem Teller. (Ein Stückchen Eierschale war auch meist dabei, man sah nicht gut bei Kerzenlicht.)
    Noch später, in Paris, nahmen mich meine russischen Cousinen (sie hatten hohe Backenknochen, messerrückenschmale Nasen und Brauen dort, wo andere sie sich mühsam hinschminken), mit in die Mitternachtsmesse der griechisch-orthodoxen Kathedrale. Ein paar Freunde, junge Franzosen in Trenchcoat und Baskenmütze, begleiteten uns und sahen verdutzt auf die goldfunkelnden Ikonen, die schlohweißen Wattehaare und -bärte der gekrönten Popen in Prachtgewändern. Rings um uns, von den Wachslichtern in ihren Händen beleuchtet und von einer Wolke herrlichen Gesangs zusammengehalten, sah man die seltsamsten Gestalten, in schäbig gewordene Eleganz gekleidet, die sich mit federleichtem Tippen auf die Brust bekreuzigten und vor deren nach innen gekehrtem Blick fabelhafte Ostern in einem fabelhaften, untergegangenen Rußland auftauchten, in das zurückzukehren sie noch immer hofften. Mitten im Dröhnen liturgischer Anrufungen flüsterte mir der eine Franzose ins Ohr: »Wann wird geküßt?« (Nur deshalb war er mitgegangen.) »Noch nicht«, raunte ich und bezog einen strengen Blick der ältesten Cousine, die meinte, der junge Mann wolle schon Vorschuß haben. Nun, er konnte nachher beim Osterfrühstück alles nachholen, was an Küssen unerledigt geblieben war. Es fand in einem schönen alten Haus statt, das einmal dem Sänger Schaljapin gehört hatte, in der Nähe des Triumphbogens. Die Köchin, seit nunmehr fünfzehn Jahren in Paris, konnte noch immer kein Wort Französisch. Sie hatte seinerzeit bei der Flucht die kleinen Jungen auf den Armen getragen und sah nun zu, wie wir die Nacht mit ihnen durchtanzten, bis das Raunen von Paris zugleich mit dem Licht anschwoll und der Morgen da war.
    (Gestern habe ich diese nun schon so lange zurückliegende Osternacht einem alten Onkel farbenfroh geschildert. »Du mußt ein reizendes junges Mädchen gewesen sein«, meinte er. Der Ahnungslose. Ich war ein unerträglich unzufriedenes Ding, im Schwarm meiner Begierden und Ängste schaudernd wie ein Pferd, das Hornissen hört. Aber mache das einem rührenden alten Herrn klar!)
    Unsere Holzform für die russische Osterspeise ist nun, nach sechzigjährigem Gebrauch, zum Brennholz eingegangen. Ich habe sie durch einen sauberen Blumentopf ersetzt. Im übrigen feiern wir Ostern wieder deutsch und suchen nach dem
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