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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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Kronleuchter verdunkeln sich langsam, so würde ich mich so gern einen Augenblick lang auf die Atmosphäre im mittelalterlichen Nürnberg oder am Hofe Richards III. einstellen. Ich bin empfindlich gestört, wenn sich zwei Damen hinter mir über ihre neue Wohnung unterhalten oder jemand in der achten Reihe nach vorne ruft: »Na, und die Anneliese ist jetzt Mama? Was ist es denn, Junge oder Mädel?«
    Doch nun hebt sich der Vorhang, der Geruch nach Kulissenfarbe weht kalt von der Bühne und mischt sich mit dem Parfüm der Dame vor mir. Alles geht eine Weile gut, nur die allerersten Sätze gehen verloren, weil man sich rings um uns gegenseitig darüber aufklärt, daß diese Dame auf der Bühne die berühmte Soundso ist. (Die Versuchung ist groß, auch ich bin manchmal schon halb an Michaels Ohr, um ihm mitzuteilen, daß wir diese Schauspielerin schon einmal vor einem Jahr in einem anderen Stück gesehen haben.) Bei komischen Stücken fällt so mancher Witz unter den Tisch, weil einige nervöse Lacher die Pointe nicht abwarten können, ehe sie losprusten. Es sind die gleichen, die bei einem Drama übergenau registrieren und erregt raunen: »O Gott, jetzt kommt der Vater!« (Wir hatten es auch schon gemerkt.)
    Ich sündige an einer ganz anderen Stelle. Hingerissen und ergriffen, vergesse ich gelegentlich, mein Täschchen festzuhalten, und sein Inhalt ergießt sich prasselnd auf den Boden.
    Gestern war es im letzten Akt mucksmäuschenstill, der hustende Herr aus dem ersten Rang hatte entweder Pastillen gelutscht oder war nach Hause gegangen, und das Stück konnte stimmungsvoll zu Ende gehen. Leicht wie eine Schneeflockenwand senkte sich der Vorhang zwischen Realem und Vorgestelltem. Nun kam der anstrengendste Teil: der Applaus. Komisch, im täglichen Leben merke ich gar nicht, daß ich eine schlechte Atemtechnik habe, nur bei zwei Gelegenheiten fällt es mir auf: beim Weinen und beim Applaudieren. Ich laufe blau an und schaffe nichts Rechtes. Und gerade bei wohlverdientem Beifall möchte ich mich nicht schonen. So habe ich mir schon mehrere Paar Handschuhe an den Nähten aufgeklatscht und mir die Fingerknöchel an meinen Ringfassungen durchgeschlagen. Michael hält mit mir durch. Andere Herren klatschen kürzer. Sie haben noch einige leichtathletische Übungen an der Garderobe vor sich. Da man für gewöhnlich je einen Mann für die Außenhülle von etwa vier Personen dorthin entsendet, wankt der Arme unter einem Berg von Mänteln in Rumpfbeuge rückwärts über die Zehen der übrigen Wartenden und trägt dabei den Hut seiner Begleiterin zwischen den Zähnen. Michael und ich gehen in Mänteln manchmal noch in den Zuschauerraum zurück. Gestern erreichten wir den Anschluß an die noch immer klatschenden Unentwegten nicht mehr, genossen dafür das schöne, unheimliche Veröden, Erstarren, Erkalten des Theaterraumes, das ungenierte Gerufe und Gepolter auf der Bühne jenseits des eisernen Vorhangs. Wenn alle Lichter erloschen sind, kommt dann das Theatergespenst, gefolgt von einem schwarzen Pudel, durch die Gänge und Tunnels, Versenkungen und Logen, im Zylinder und mit weißem Plastron. (Ein bekannter Intendant ist ihm einmal begegnet.) Aber so lange konnten wir gestern nicht warten.
     
     
     

10. April
     
    Beim Mensch-ärgere-dich-nicht habe ich immer verloren (auch bei Völkerball, Kricket, Tennis, aber da lag es an meiner Ungeschicklichkeit). »Unglück im Spiel...«, spottete man. Ja, wenn Glück in der Liebe darin besteht, daß man sich niemals mit unerwiderten Gefühlen herumplagen, sich nie nach jemandem verzehren muß, der einen keines Blickes würdigt — dann habe ich immer Glück gehabt. Erst jetzt lerne ich, was es heißt, hinter einem Mann herzutelefonieren, ohne ihn sprechen zu können, schmerzerfüllt an ihn zu denken, beim Essen, ja schon morgens beim Zähneputzen (auch nachts gelegentlich), bei Nennung seines Namens zu erbleichen und einen beschleunigten Puls zu bekommen und jeden Tag mit dem einzigen Gedanken zu beginnen, ihn vielleicht heute doch zu erreichen.
    Es ist mein Zahnarzt, der zur Zeit krankheitshalber nicht arbeitet.
     
     
     

12. April
     
    Herr und Frau M. besitzen wundervolle Bildbände über Italien. Im Anschluß an ihre Reisen haben sie sie ein paarmal durchgeblättert. Die Zeit, sie Seite für Seite anzusehen, nahmen sie sich nicht. »Ja, da ungefähr haben wir gestanden. Etwas mehr rechts«, sagten sie, statt Proportionen und Maße, statt die Elemente der Landschaft noch einmal
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