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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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oder eine Weisheitszahnextraktion geeignet gewesen wäre. Eine sinnreiche Vorrichtung ließ mich, nachdem man mir diverse Lätzchen umgebunden hatte, nach hinten umkippen. Nun fühlte ich mich als Patient. Von unten gesehen glichen die Weißgekleideten Krankenschwestern, um so mehr, als sie nun nur noch leise und liebevoll mit mir sprachen. Selbst flüsternd, wagte ich zu fragen, ob jemand in der Nähe schliefe. Nebenan sei Behandlung, wurde ich belehrt. Ich hatte es ja geahnt, daß Gesichtshaut geräuschempfindlich ist, außerdem war natürlich beim Ingangsetzen der Jungmühle irgendeine Zauberei dabei.
    Zwei der strengen Engel in meiner Kabine raunten sich ein paar Fachausdrücke zu, dann näherte sich mir der eine mit einer Porzellanschale in der Hand. »So, gnädige Frau«, forderte er mich auf, »nun denken Sie einmal an etwas recht Angenehmes!« Ich erschrak fürchterlich, denn diese Formel war von jeher die Einleitung zu schmerzhaften Prozeduren gewesen. Doch nein, man klatschte mir nur mit einem breiten Anstreicherpinsel eine Art Gipsbrei ins Gesicht, und als ich nach einer Weile wagte, ein Auge zu öffnen, sah ich im Spiegel einen jener Köpfe, die in Ateliers hinten an der Wand stehen, weil der Bildhauer die Lust verloren hat, daran weiterzuarbeiten. Ich war froh, daß man mir wenigstens die Nasenlöcher zum Atmen offengelassen hatte, und dachte an Angenehmes. Ich hatte viel Zeit dazu. Die weißgekleideten Engel waren fortgegangen, man hörte Flüstern und tiefes Aufseufzen aus der Nebenkabine. Langsam begannen Gipsbrocken auf das Lätzchen zu rieseln. Meine Betreuerin kam zurück, drehte mich entschlossen in meinem Stuhl vom Spiegel weg (wahrscheinlich um meine Nerven zu schonen) und begann mich mit heißen und kalten Frottelappen zu restaurieren, wie ein kostbares Altarbild. Mein Gesicht wurde wieder beweglich. Ich grinste versuchsweise: es gab keine Risse mehr. Dann schaute ich gespannt in den Spiegel.
    Abgesehen davon, daß ich ein bißchen rot, glänzend und verschwollen aussah, hatte ich dasselbe dumme Gesicht wie sonst auch. Ich nahm allen Mut zusammen. »Aber ich sehe ja aus wie immer«, sagte ich zu dem mir über die Schulter sehenden Engel, der augenscheinlich auch noch ein Lob wollte. »Wir haben Ihnen keine Effektmaske gemacht, gnädige Frau«, sagte dieses von der Natur begnadete Wesen. Ich wagte nicht zu sagen, ich hätte geglaubt, hier habe jede Maske Effekt. Vielleicht war ich ein hoffnungsloser Fall. Ich ging zur Kasse und zahlte. Eine der anderen Türen öffnete sich, und es trat eine Dame heraus, die zweifellos ihr Geld umsonst hierher trug, und das gab mir wieder Haltung. Ja, noch mehr — lag es an den facettierten Spiegeln des Vorraums, ich gefiel mir, verglichen mit der Dame aus der Nebenkabine, eigentlich recht gut.
    »Hast du alles erledigen können?« fragte Michael, der Ahnungslose, und dann: »Was strahlst du denn, hast du was Nettes erlebt?« »Wie findest du, daß ich aussehe?« fragte ich, im Geiste noch immer auf dem facettierten Spiegel fußend. »Wieso, zeig mal?« Und dann nach einer kurzen Pause, vorsichtig: »Kenn’ ich den Schal schon?«
     
     
     

24 . März
     
    Endlich hört der Winter doch auf. Die Natur, eben noch nur sichtbar, wird wieder riechbar, und das dort drüben am Waldrand ist gar kein Restchen Schnee, sondern ein Feldstein. Die Weidenbäume am Ufer haben abgerissene, geknickte Zweige und stehen da wie gerupfte Hühner, weil die Kleinen, die das Schulfräulein unbedingt mit den Kätzchen beglücken wollten, kein Messer besitzen. Straßen und Wege sind aufgeweicht, und Besucher betreten das Haus auf Zehenspitzen, damit das, was hinten am Absatz und im Inneren der Stollensohle klebt, erst später herunterfällt. Michael fängt an, sich mit seinen Autokarten zu beschäftigen, und betrachtet versunken diese und jene Strecke.
     
     
     

27 . März
     
    Der Junge war übers Wochenende zu Hause. Die Zeit war, wie immer, zu kurz. (Sein Vater äußerte Besorgnis, ob ich alle auf Vorrat gekochten Lieblingsspeisen in diesen Lieblingsgast hineinbekäme, ohne ihn nachts wecken zu müssen.) Der erste Tag, nachdem er abgereist ist, wird immer von zwei Erkenntnissen beherrscht: daß oft die sympathischsten und interessantesten Leute in der engeren Familie zu finden sind und auch, daß wir nie wieder ein Ganzes sein werden wie damals, als wir noch ein Schulkind daheim hatten. (Auch ein Puzzlespiel kann man noch legen, wenn es nicht mehr vollständig ist, muß aber auf
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