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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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die Schachtel schreiben: Wichtiger Stein fehlt!)
     
     
     

29. März
     
    In einem Dorf hinter dem Steinpilzwald kam ich heute dazu, wie eine Familie von ihrem Zugochsen Abschied nahm. (Wieso hat er in diesem Traktor-Zeitalter bis heute überlebt?) Ein schnaufender Berg mit verbundenen Augen, ließ er sich widerstrebend die Rampe hinauf in den Viehwagen führen. Manchmal blieb er stehen und wandte den blinden Kopf mit den triefenden Speichelfäden lauschend und witternd zu dem Mann neben sich. Der roch ihm vertraut, und so schien denn alles in Ordnung zu sein. Die Bäuerin und ihre Tochter, die Arme in die Schürze gewickelt, sahen ihm durch den kahlen Obstanger nach. »Er war a recht a guats Viech«, lobte die Tochter und verstummte. Nach einer Pause setzte die Bäuerin hinzu: »Dös hat’s gar nia net geb’n, daß ma amoi mit eahm steckablieb’n war.«
    So sprachen sie dem verurteilten Helden die Laudatio, der mit der Binde vor den Augen der letzten Dunkelheit zustapfte.
     
     
     

4. April
     
    Deutschland, ein Land, in dem der Spezialist fast etwas Heiliges ist, bringt naturgemäß viele Abarten von Spezial-Deutsch hervor. Im Korridor eines Krankenhauses zu hören: »Sind Sie der chronische Wurmfortsatz?« oder »Hast du den Kaiserschnitt auf sieben schon fertig?« ist ebensowenig ungewöhnlich wie beim Friseur Befehle folgender Art: »Vorstrecken zur Nackenkrause!«
    »Frau Müller in Drei schon naßmachen!« Im Kasino eines Funkhauses sagt einer: »Ich bin heute lang und denke nicht daran, mich zu kürzen«, und ein anderer: »Mann, den Nationalrechtsaußen haben wir doch schon gestern verbraten«. Dies Letzte leitet schon zum Sport-Deutsch über. (»Mit eisenharten Schlägen trommelt der blonde Kölner seinen Gegner auf die Matte...«, »Unverdient hoch mußte der FC ins Gras beißen« ) Nicht ganz so komisch ist das Werbedeutsch, obwohl Wortkonstruktionen wie »winterliches Reifenbewußtsein« ein Lacherfolg sein können, hinterläßt es einen faden Geschmack auf der Zunge, ähnlich wie Süßstoff. »Wie wundervoll du duftest...« »Wie samtzart ist deine Haut...« »Wie köstlich schmecken deine Margarinebrötchen...«
    Längst haben wir auch ein Zeitungsdeutsch, in das Wörter wie »Organklage«, »aufgewertete Altwitwe«, »wochenendnahe Unterbringung« und »militärisch verdünnte Zone« gehören. Der durchschnittlich gebildete Zeitungsleser versteht sie ja auch sofort. Mir, der durchschnittlich Unbefangenen, fallen sie noch auf.
     
     
     

8. April
     
    Manchmal, wenn wir in der Stadt sind, lassen Michael und ich uns von einem lockenden Plakat überwältigen und gehen ins Theater. Da Michael immer pünktlich ist (man kann sich mit ihm am 8. April 1970 um vier Uhr morgens in Kairo verabreden, er wird auf die Minute da sein), gehören wir zu jenen Besuchern, denen die noch ziemlich untätige Garderobefrau ein Opernglas andrehen möchte. Erfahrungsgemäß sieht man damit ungefähr so gut wie durch die verkratzten Fernrohre auf Aussichtspunkten, in die man zehn Pfennig einwirft. Auch Programme gibt es, wenn wir kommen, noch im Überfluß, Hefte aus angenehm riechendem, steifem Papier, die außer dem einen Blatt mit den Namen der Darsteller nur Pelzreklamen und anderes Überflüssige enthalten und dafür etwa so viel kosten wie die Taschenausgabe eines Klassikers. Man kann sie später nicht mehr verwenden, sie brennen schlecht, und man kann auch die Schuhe nicht damit ausstopfen. Aus einer Art mißgeleitetem Pflichtgefühl trägt man sie, geknifft oder gerollt, noch bis nach Hause.
    Im Foyer wird es jetzt schon voller. Vor den hohen Spiegeln drängen sich Damen mit Taschenkämmen, die sich gegenseitig kalt und abschätzig mustern, ohne auch nur das kleinste bißchen zu lächeln. Nur diejenigen, die einen Spiegel für sich allein haben und sich unbeobachtet glauben, ziehen die Oberlippe lang, die Brauen hoch und machen das Gesicht, das sie gerne hätten. Ich treffe diese Feststellungen allein, weil Michael in die zugige Vorhalle gegangen ist, um zu rauchen. Ein paar ganz starke, verinnerlichte Naturen finden Zeit, sich mit der Inhaltsangabe im Programm zu beschäftigen. Sie verpassen zwar dann die Dame in dem tollen Nerz, aber dafür wissen sie nachher bei der Aufführung, warum die Heldin aufschreiend in die Kulisse stürzt, oder verstehen — was bei einer Oper wichtig ist — wenigstens ungefähr, was sie singt.
    Sitzt erst einmal ein Großteil des Publikums auf seinen Plätzen und die
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