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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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Frühstück im Garten, wenn der Tau aus dem Gras ist. (Hoffentlich bleibt das Wetter schön, damit der im Forsythienbusch versteckte Fontane nicht feucht wird!)
     
     
     

25 . April
     
    Ich habe in einer Attacke von Fernweh am Sparschwein gerüttelt. Wenn es noch etwas dumpfer klingt, fahren wir wieder für ein paar Tage nach Wien. Einstweilen lesen wir Stifters Betrachtungen über das Wien des Biedermeier. (Wer eine Stadt liebenswert findet, will alles von »früher« von ihr wissen, so wie man von einem Mann, in den man sich verliebt, unbedingt ein Kinderbild haben möchte.)
    Da Michaels Stimme sich weniger zum Vorlesen als zum Brikettzählen eignet, lese ich vor, und er hört zu. Anderer Leute Gattinnen, jene starken, schweigsamen Naturen mit braunen Augen, stopfen statt dessen die einzumottenden Wintersocken und kommen an einem einzigen Abend auf den Grund des Flickkorbes. Außerdem ist gemeinsames Lesen im Zeitalter des Fernsehens ein derartiger Anachronismus, als säße ich am Spinnrocken, und Michael schnitte Federkiele zurecht.
     
     
     

30. April
     
    Unser armer Doktor, der nach jahrelangen Bemühungen die hiesigen Bauern endlich so weit erzogen hat, daß sie nicht mehr die Hämorrhoidalzäpfchen samt dem Silberpapier hinunterschlucken, muß jetzt gegen aus Lesezirkeln stammende medizinische Weisheiten ankämpfen. Und gestern sagt die alte Pfandlingerin vor seinem Haus zu mir, wie’s ihr ginge, wisse sie nicht, weil sie den Zettel nicht mehr fände, auf dem sie sich’s aufgeschrieben hätte. Sie litte, so glaubte sie, entweder an dispeptischer Arhithmie oder an arithmetischer Dispepsie. Beinahe listig fragte sie mich: »Was is’n schlimmer?«
     
     
     

2. Mai
     
    Als Kind soll ich große, fremde Hunde angesprochen haben und in tiefes Wasser gesprungen, kurzum mutig gewesen sein. Heute bin ich recht feige, besonders da, wo es besser wäre, nicht auszugleichen, nicht zu begütigen, sondern zu seiner Überzeugung zu stehen. Denn wie es das Schicksal der Pünktlichen ist, auf die Unpünktlichen zu warten, so ist es das Schicksal der Höflichen, sich von den Unverschämten etwas bieten zu lassen.
    Soeben lese ich in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, daß infolge undurchschaubarer biologischer Umschichtungen für mich Aussicht besteht, als alte Frau wieder so mutig zu werden, wie ich es als Kind war. Die Jahre vergehen jetzt so schnell, daß der Tag abzusehen ist, an dem ich meinen Mitmenschen den Anblick meines bloßen Halses nicht mehr werde zumuten können (»In meinem Alter zieht man sich nicht mehr an, man bedeckt sich...«), mich auf einen Stock mit Gummizwinge stütze und mutig bin. Ich werde dann nicht mehr aus Liebenswürdigkeit gegen Mitgäste, Gastgeber und Freunde (die in Wahrheit Schwäche ist) alles unwidersprochen hinnehmen. Keiner der jungen Dachse mit wabernder Frisur wird dann mehr in meiner Gegenwart Ansichten voller Unreife und Arroganz über das deutsche Kulturleben äußern dürfen, niemand mehr sagen dürfen, daß »man ja sähe, wie es mit der Demokratie hierzulande eben auch nicht ginge...« oder daß »die deutsche Jugend noch schlechter sei als ihr Ruf...« oder daß »es keine nennenswerte deutsche Gegenwartsliteratur mehr gäbe«. Ich werde mit dem Stock aufklopfen und mir derart subjektive Meinungen erlauben, wie: »Solange mein Sohn und seine Freunde persönlich integer sind, dulde ich in dieser Hinsicht keine abfälligen Verallgemeinerungen, und solange mein Mann und seine Freunde schreiben, gibt es eine deutsche Gegenwartsliteratur!«
    (Es bleibt zu hoffen, daß die biologische Umschichtung kein bissiges altes Original aus mir machen wird, sondern eines, bei dem man das mütterliche Grollen einer Adele Sandrock durchhört.)
     
     
     

3. Mai
     
    Nicht, was man schwarz auf weiß besitzt, nur was man auswendig gelernt hat, kann man getrost nach Hause tragen, meinte Papa. Er hatte erfahren, wie oft das Schwarz-auf-Weiße bei Kriegen, Fluchten und Revolutionen verlorengeht. Als er seinerzeit bei seiner Tochter das Papageientalent des Nachsprechens entdeckte, pflegte und entwickelte er das Auswendiglernen bei ihr. Er hat mir damit ein Geschenk gemacht, das sich noch immer verzinst. Es ist von unschätzbarem Wert, wenn man sich früh um drei Uhr nach einer durchwachten Nacht, statt nach den heute üblichen Barbitursäurepräparaten zu greifen, den ebenso wirksamen Mörike vorsagen kann:
    Ach sanfter Schlaf, obwohl dem Tod wie du nichts gleicht,
    Komm, teilen wir
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