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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten
Autoren: Michael Theurillat
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Angst. Aber hier wurde nicht einmal geschubst. Die Zürcher Elite und ihre Gäste stiefelten im Gänsemarsch durch die Reihen auf die Treppen zu; ließen sich bei Engpässen gegenseitig den Vortritt. Sie trippelten mit vorgehaltenen Taschentüchern in die rauchfreie Zone rechts von der Holztribüne, als begäben sie sich zur Pause ins Foyer, um sich zu erfrischen.
    Als eine elegante Dame mit ihren Stilettos die Holzstufen suchte, reichte Eschenbach ihr die Hand. »Das Schlimmste bei einem Brand ist immer der Rauch«, sagte er.
    »Brennt es denn?«, fragte die Frau amüsiert, stöckelte über zwei Tritte und verlor das Gleichgewicht.
    Der Kommissar fing sie auf, hielt sie in den Armen, ging mit ihr die Treppe hinunter und stellte sie auf den Boden. »Normalerweise steht man hier, und der Rauch zieht über die Köpfe. So hat man’s immer gemacht. Aber die Herren von der UEFA wollen es besser wissen. Ist kein Fußballspiel, das Sechseläuten.«
    »Da sind Sie ja!« Es war die schneidende Stimme eines Polizeiobersten. »Die Luft ist rein … Wir können wieder Platz nehmen.«
    Tatsächlich, der Wind hatte gedreht. Eschenbach sah sich nach Kobler um, konnte sie aber nirgends entdecken.
    Plötzlich hörte man Böllerschüsse.
    Ein Raunen ging durch die Menge. Der Böög auf dem Scheiterhaufen hing in Fetzen. Ein Feuergespenst.
    »Sechsunddreißig Minuten«, registrierte Eschenbach.
    Die Tribüne blieb leer. Gebannt richteten sich die Augenpaare auf die Puppe.
    »Das war’s wohl«, sagte jemand.
    »Der Kopf ist noch dran«, ein anderer.
    Vom Schneemann war nicht mehr viel übrig. Einzig ein brennendes, schwarzes Gerippe mit Hut. Es war bemerkenswert still geworden auf dem Platz. Nur das Feuer hörte man, und den Wind. Ein banges Warten auf das Ende eines Winters.
    Ein Luftstoß hob den flammenumwogten Hut des Böögs etwas an. Einen Moment sah es so aus, als grüße er zum Abschied. Und etwas später flogen die zu Asche gewordenen Reste seiner Kopfbedeckung federleicht in den Himmel.
    »Jesus!«, rief jemand aus der Menge.
    Tatsächlich, auf dem Scheiterhaufen stand nun ein loderndes Kreuz.
    »Heiliger Himmel!«
    Und über dem Querbalken, dort wo der Kopf gesessen hatte, sah man deutlich einen Teil der Sprengladung; ein dicker Wulst, der wie eine Kröte auf dem Hals hockte und sich weigerte zu explodieren.
    Noch immer gafften die Leute, warteten auf den erlösenden Knall. War’s das gewesen? Man tuschelte, hob ratlos die Schultern.
    Eschenbach ging zu einem der Wurststände am Ufer des Sees. Doch auch dort herrschte Ratlosigkeit, und einige der Exponate auf dem Grill waren deutlich zu schwarz geworden.
    »Jetzt sind’s bald vierzig Minuten«, sagte die Frau am Stand. Sie war kräftig und blickte besorgt in Richtung Böög. »So lang hat’s noch nie gedauert.«
    Eschenbach wollte seinen Zettel hervorholen, auf dem er die Zeiten der letzten Jahre notiert hatte.
    Da knallte es: ohrenbetäubend.
    Die Metzgerfrau riss die Hände hoch. Die Bratwurst, die sie dem Kommissar hatte geben wollen, flog in hohem Bogen an ihm vorbei.
    »Gott sei Dank!«, riefen die Leute. »Gott sei Dank!« Und die Menge jubelte, als hätte der Heilige Vater sie tatsächlich von der Last des Winters befreit.
    Vorne beim Seebecken wurden die Menschenmassen lichter. Viele der Leute machten sich auf den Heimweg, schlenderten in Richtung Quaibrücke und rätselten darüber, was diesmal schiefgelaufen war. »So hässlich habe ich den Böög noch nie gesehen«, sagte eine ältere Frau zu zwei jungen Buben, vermutlich ihre Enkel. »Abgebrannt bis auf die Holzstangen.«
    Eine erfrischende Brise wehte vom See. Der Kommissar atmete tief durch. Er hatte die Bratwurst, die ihm die Frau geschenkt hatte, weil es mit dem Böög doch noch geklappt hatte, viel zu schnell gegessen. Jetzt brannte sein Magen.
    Er musste wohl oder übel zurück. Kobler hatte den ersten Stock im Vorderen Sternen reserviert; für die Delegation aus Berlin – und für wichtige Debatten unter Polizeistrategen.
    Voller Unlust wischte er sich mit der Serviette den Senf von den Fingern, warf sie dann, zusammen mit dem Karton und dem Senfrest, in eine Mülltonne und wollte sich auf den Weg machen, als jemand hinter ihm um Hilfe rief.
    Eschenbach drehte sich um.
    Zwanzig Meter von ihm entfernt hatte sich ein kleiner Pulk Menschen gebildet. Er näherte sich ein paar Schritte.
    Der Menschenauflauf wurde größer.
    Eschenbach hatte nun Mühe, sich einen Weg durch die Leute zu bahnen. Als er sich
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