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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten
Autoren: Michael Theurillat
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gingen.
    Heute war Montag – und vielleicht der Zeitpunkt gekommen, etwas anderes zu tun, dachte er. Aber was, wenn Kraft und Mut dazu fehlten? Überhaupt, warum waren Neuanfänge immer dann ein Thema, wenn das Alte in Schutt und Asche lag? Auf dem Höhepunkt seiner Karriere aufhören – das hatte er gewollt. Nun war er weiter denn je davon entfernt.
    Eigentlich hatte er von der Polizeichefin des Kanton Zürich Schützenhilfe erwartet. Wenn man als Polizeibeamter von außen unter Druck gerät, so wie er bei diesem Sechseläuten-Fall, steht die Kommandantin normalerweise hinter einem.
    Erwartete Kobler etwa, dass er kündigte – in Schmach und Schande?
    Wenn schon aufhören, dann freiwillig, dachte der Kommissar. Am Ende eines gelösten Falles den Hut nehmen und in den Sonnenuntergang reiten wie Lucky Luke.
    Eschenbach saß auf der kleinen Terrasse seiner Stadtwohnung, sah in die dunklen Wolken eines späten Morgens und wurde die Gedanken, die ihn plagten, nicht los. Er stand auf, ging ins Wohnzimmer zurück und machte sich an der Stereoanlage zu schaffen. Wieder einmal erklang Mahlers Neunte .
    Sein Seufzen gesellte sich zum Andante comodo, das in
D-Dur aus den Boxen kroch. Er humpelte in die Küche, nahm ein Ibuprofen 600 . Am liebsten wäre er aus der Haut gefahren. Oder aus dem Gips, der bleischwer an seinem linken Fuß
hing.
    Endlich war Frühling. Wie ein Kind hatte sich Eschenbach darauf gefreut: auf das erste Grün der Blätter und auf die Möwen, die am Bürkliplatz kreischend um die Wette flogen. Er hatte sich ausgemalt, wie er an den Wochenenden mit Kathrin und Corina (falls sie Zeit hatten) ein Picknick am Horgener Bergweiher machen oder durch das Niederdorf bummeln würde (mit anschließendem Spaghettiplausch in der Commihalle). Auf seine Liege auf der Terrasse hatte er sich gefreut, und auf die Samstagmorgen, die er lesend verbringen wollte: mit einem Glas Tessiner Merlot und der Wochenendausgabe der Neuen Zürcher Zeitung .
    Endlich war Frühling. Und kaum etwas von alldem hatte er unternommen. Dazu der Gips, der alles noch zusätzlich verkomplizierte. »Du bist nicht genießbar«, hatte seine Frau am Telefon gesagt. Und so, wie es schien, war Corina froh, dass sie im Moment getrennt lebten und jeder seine eigene Wohnung hatte.
    Kobler hatte ihm Alterssturheit vorgeworfen. Mit Sturheit hätte er noch leben können, aber das war zu viel gewesen.
    Wieder ging er hinaus auf die Terrasse, setzte sich auf die
alte Teakholzliege und sah mürrisch auf die umliegenden Dächer.
    Wie die Zürcher Polizeibehörde gestern mitteilte, wurde die Untersuchung im Todesfall Bischoff eingestellt. Charlotte Bischoff, Mitarbeiterin des Zentralsekretariats der FIFA, war beim Sechseläuten auf tragische Weise zu Tode gekommen. Kommissar Eschenbach, Leiter der Kriminalpolizei des Kanton Zürich, musste sich seitens der Angehörigen wegen seines krassen Fehlverhaltens schwere Vorwürfe gefallen lassen. Er wurde auf unbestimmte Zeit von seinem Dienst suspendiert, hieß es.
    Der Weltfußballverband begrüßte diesen Schritt. Zu den Ergebnissen der Voruntersuchung bezog niemand Stellung. Das Interesse gelte nun ganz der EURO 08 , wurde betont.
    Auf die Frage eines Journalisten, was nun künftig auf seiner Agenda stünde, antwortete Eschenbach lakonisch: »Brot und Spiele.«
    Von all dem, was in der vergangenen Woche über den Fall geschrieben worden war, war dies noch der sachlichste Kommentar; und dennoch war er falsch. Es gab keine Untersuchungsergebnisse, jedenfalls keine, die Eschenbach bekannt gewesen wären. Es gab nur Vermutungen, angenommene Zusammenhänge und Ungereimtheiten, denen er nicht hatte nachgehen können. Alles war auf ein Machtspiel hinausgelaufen, auf Erpressung. Dass er alldem den Rücken gekehrt und den Kampf verweigert hatte, half ihm nicht. Es schmerzte wie die übelste Niederlage.
    Eschenbach konnte die Niederlage verdrängen; aber vergessen konnte er sie nicht. Fußball hat seine eigenen Gesetze. Doch so, wie es aussah, hing in den Fluren der Demokratie nun das Regelwerk des Spiels. Eine Zeitlang wenigstens. Und deshalb hatte er sich die zweite Halbzeit sparen wollen.
    Mitten in Mahlers erstem Satz läutete es. Das Hornregister blies in voller Stärke. Eschenbach zögerte. Er erwartete niemand.
    Als die Glocke zum zweiten Mal erklang, humpelte der Kommissar zur Tür, öffnete sie und horchte.
    »Ich bin’s!«, hörte er von unten. Es war die vertraute Stimme von Rosa Mazzoleni. Groß, vollschlank
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