Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten
Autoren: Michael Theurillat
Vom Netzwerk:
Frau, die mitten in einer Kreidemarkierung regungslos am Boden lag.
    Es war Walter von Matt, dem als Ersten dämmerte, dass der Junge möglicherweise mit der Frau in Verbindung stand. Der alte Berner Kempe, seit vielen Jahren Leiter der Spurensicherung, rief Eschenbach zu: »Dä Büebu … das isch doch däm siis Müeti?«
    Eschenbach fuhr sich mit der Hand durch sein verschwitztes Haar. »Meinst du?« Er sah auf den Jungen, schätzte ihn auf acht oder neun Jahre. »Meinst du, sie ist seine Mutter?«
    Von Matt ließ ein Foto machen.
    Und weil der Kleine auch weiterhin keinen Ton von sich gab, nahm Eschenbach ihn bei der Hand. Sie gingen zu den Ständen. Immer wieder schaute der Junge zurück, dorthin, wo die Tote lag.
    Der Kommissar kaufte zwei Bratwürste, bleich und ungebraten, außerdem eine große Flasche Cola mit zwei Bechern.
    »Wir gehen zum Feuer«, sagte Eschenbach.
    Der Junge riss die Augen auf, schüttelte verzweifelt den Kopf.
    Eschenbach beugte sich zu ihm hinunter. Sprach mit dem Kleinen, behutsam, wie mit einem störrischen Schaf. Dann nahm er ihn bei der Hand. Langsam gingen sie weiter.
    Auf einer Grünfläche vor dem Opernhaus schnitt der Kommissar einen dünnen Ast aus einem Haselstrauch. »Und das wird unser Grillspieß.«
    Der Junge starrte auf das rote Offiziersmesser und streckte seine Hand danach aus. Eschenbach überließ ihm Messer und Ast, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, da setzte der Junge die Klinge an das dünnere Ende der Gerte und spitzte
es zu.
    »Das kannst du also«, murmelte Eschenbach. Er sah in das konzentrierte Bubengesicht und fragte sich, was in dem kleinen Kopf wohl vorging. Hatte er etwas gesehen, und war er, wie von Matt meinte, wirklich das Kind der Frau? Seine Haut war sonnengebräunt, und er hatte dicke, braune Zapfenlocken, wie man sie bei Kindern hierzulande selten sah. Und in dem hübschen Gesicht stachen, als wollten sie nicht recht dazugehören, zwei wachsame indigoblaue Augen hervor.
    Der Junge ließ sich Zeit. Das Holz wurde sorgsam abgetragen, die Kanten gebrochen und der Spitz mehrmals prüfend gegen das Licht gehalten. Als er damit zufrieden war, übergab er Eschenbach das Messer. Den Speer behielt er.
    Nach dem Tod des Böögs, wenn der Scheiterhaufen sich langsam setzte, auf kleiner Flamme ausbrannte, war es über die Jahre üblich geworden, dass sich ein paar Leute ums Feuer herum niederließen und Würste brieten. Es war kein offizieller Brauch, der von den Zünften gutgeheißen wurde. Mehr eine Unsitte, die man nicht bekämpfte, so wie man früher nach einer Tafelrunde Essensreste übrigließ für diejenigen, die nicht dazugehörten.
    Schweigend saßen sie am Feuer. Abwechselnd hielt einmal der eine, mal der andere den Spieß. Der Kommissar hatte längst aufgehört, Fragen zu stellen. Und wenn er es trotzdem einmal tat, gab er sich die Antwort selbst: »Sollen die andern die Arbeit machen.«
    Als die Würste fertig gebraten waren und sich der Kleine mit Heißhunger darüber hermachte, da schien für eine kurze Zeit die Welt stillzustehen.
    »Wir haben Sie überall gesucht«, sagte Rosa aufgeregt, als Eschenbach und der Kleine eine Dreiviertelstunde später wieder an den Unfallort zurückkehrten. Die einfallende Dunkelheit zeichnete ein düsteres Bild. Von Matt und zwei Beamte waren mit letzten Aufräumarbeiten beschäftigt. Wie Schatten bewegten sie sich, gaben Anweisungen und rollten die rotweißen Bänder wieder ein, die sie für die Absperrung verwendet hatten. Ein Fotokoffer stand verlassen neben einer Parkbank. Der Lichtkegel einer Taschenlampe blitzte auf und erlosch wieder. Eschenbach hörte das Glucksen der Wellen am nahen Ufer, und er beobachtete, wie von Matts Männer die Wolldecke nahmen, die neben der Kreidemarkierung gelegen hatte, und sie zusammenfalteten.
    »Die Frau haben sie ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht«, sagte Rosa. Sie fröstelte. »Und vom Arzt haben wir die Personalien. Es sei äußerlich nichts festzustellen, hat er gesagt.«
    »Vermutlich ein Herzinfarkt«, sagte von Matt, der zu ihnen getreten war und weiter berichtete: »Gibt es immer wieder bei solchen Großanlässen. Die Leute muten sich einfach zu viel zu. Am besten, wir warten den Befund des Pathologen ab, dann wissen wir mehr.«
    »Hoffen wir’s«, sagte Eschenbach und gähnte. Der kleine Junge war, seit sie zusammen gegrillt hatten, nicht von seiner Seite gewichen. Kaum hatte Eschenbach daran gedacht, den Kleinen irgendwohin zu verfrachten,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher