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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten
Autoren: Michael Theurillat
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dem Weg in sein Büro, als Rosa ihm nachrief:
    »Läuft nur das Band dort. Soll ich’s vielleicht auf dem Handy versuchen?«
    »Hab ich schon. Er nimmt nicht ab. Ich brauch das Zeugs jetzt aber. Es ist wichtig!« Eschenbach erschrak über die Härte in seinem Tonfall.
    Der Junge schlug mit der Faust auf den Tisch, und Benjamin Blümchen machte »Taaarrööö!«.
    Rosa sagte nichts. Sie suchte in ihrer Rollkartei. Nach einer Weile meinte sie: »Handy, Privat, Institut … Andere Nummern haben wir nicht.«
    Eschenbach stand nun wieder im Türrahmen. Er sah zur Decke und spürte seine Anspannung. Es war, als zöge ihn jeder Teil seines Körpers in eine andere Richtung. »Macht nichts«, sagte er.
    Und wieder: »Taaarrööö!«
    »Könnten Sie vielleicht …«, begann Eschenbach zögernd. Er sah auf den Kleinen. »Ich hab im Moment einfach nicht die Nerven dafür.« Kaum hatte er das ausgesprochen, überkam ihn ein schlechtes Gewissen.
    Rosa schien einen Moment darüber nachzudenken.
    Und wenn es schiefging, dachte der Kommissar. Wenn irgendetwas passierte, ein Unfall zum Beispiel, oder wenn sich der Kleine aus dem Staub machte. Es ließ sich überhaupt nicht ausmalen, was das bedeuten würde.
    Rosa erwähnte nichts von alldem. »Ja, das geht«, sagte sie. »Ich habe eine Kiste mit Spielsachen, ein Gästezimmer … Sie wissen, mein Patenkind Franco … also der übernachtet manchmal auch bei mir.«
    Kurz vor zehn wurden Rosa und der Kleine abgeholt.
    Eschenbach hatte Ruedi Kalbermatten, einen Kollegen vom Streifendienst, angerufen und ihn gebeten, einen Wagen zu schicken.
    Rosa hatte ein Taxi gewollt, aber Eschenbach war stur geblieben.
    Zwei jüngere Polizisten kamen vorbei. Sie waren noch unerfahren. Eschenbach merkte es daran, wie sie miteinander umgingen, an der vorlauten Art, mit der sie ihre Unsicherheit überspielten. Sicher hätten sie sich einen härteren Fall gewünscht. Eine Schlägerei an der Langstrasse vielleicht oder einen Autounfall. Für einen Taxidienst gab es kein Tapferkeitsabzeichen.
    Es war bereits nach zwölf, und der Kommissar saß noch immer an seinem Schreibtisch.
    Salvisberg hatte nicht mehr angerufen. Erst nach zwei weiteren Tassen Kamillentee und einer lustlos gerauchten Brissago hatte Eschenbach aufgehört, seine eigenen Wunden zu lecken.
    Auf dem Schreibtisch lagen fünf Seiten Fakten. Eschenbach hatte die Blätter entdeckt, als er das Wasser erhitzt und zwischen Kochnische, Rosas Arbeitsplatz und seinem Büro hin und her getigert war. Das Bündel Papier hatte in der Faxablage gelegen und trug einen Vermerk von Walter von Matt: Du willst ja alles immer sofort.
    Es waren die Personalien der Toten (Kopie ihrer Ausweise, Kreditkarten etc.), diverse Fotos der Frau und der Gegenstände, die man bei ihr gefunden hatte (das meiste in einer dunkelbraunen Wildledertasche); eine erste Bestandsaufnahme, nicht viel zwar, aber immerhin ein Anfang.
    Nachdenklich war Eschenbach Blatt für Blatt durchgegangen. Die tote Frau hieß Charlotte Bischoff, war zweiundfünfzig und wohnte in Wädenswil. Ihr Zivilstand war nicht auszumachen. Sie hatte keinen Pass bei sich getragen; und auf ID , Führerschein und den Kredit- und Kundenkarten war dieser nicht vermerkt. Interessanterweise fanden sich keinerlei Angaben zu dem Jungen. War sie doch nicht seine Mutter? Trugen Mütter nicht immer die Fotos ihrer Kinder bei sich – oder wenigstens einen Ausweis? In seinem Alter hatten viele Kinder schon eine Identitätskarte. Die Schweiz, dachte Eschenbach, ist ein größeres Laufgitter mitten in Europa, aber an den Grenzen gibt es noch immer Zollbeamte.
    Was war mit Angehörigen? Eschenbach wühlte sich nochmals durch die Blätter. Jemand musste es doch geben. Mit zweiundfünfzig war man nicht allein auf der Welt. Wen hatte man benachrichtigt? Er fand auch dazu keine Hinweise. Gerne hätte Eschenbach Rosa angerufen. Vielleicht trug der Junge seinen Ausweis bei sich. Aber jetzt, mitten in der Nacht? Es musste warten.
    Auch die Telefonnummer der Toten fehlte. Sie war nirgends vermerkt, und als Eschenbach einen Eintrag im elektronischen Nummernverzeichnis suchte, fand er keinen. Ebenso ratlos war die Dame von der Auskunft.
    »Vielleicht gibt es eine Geheimnummer?« Eschenbach ließ nicht locker. »Sie wissen schon, die schwarze Liste.«
    »Die dürfte ich Ihnen sowieso nicht geben«, unterbrach ihn die Frauenstimme.
    »Aber ich bin von der Polizei.«
    »Das sagen sie alle.«
    Es hatte keinen Sinn. Eschenbach legte auf.
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