Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten
Autoren: Michael Theurillat
Vom Netzwerk:
abgespielt hatte, drei Stunden zuvor, als alle den Kopf verloren hatten: der Böög, der Arzt und er selbst. Ja, auch er!
    So schnell waren Fernseh-, Radio- und Presseleute noch nie bei einer Leiche gewesen. Kunststück, schließlich lag sie keine zweihundert Meter vom Böög entfernt. Kamera schwenken, ein paarSchritte und weiter kommentieren. Nach diesem halb verreckten Böögenbrand schon das zweite Highlight des Abends.
    Plötzlich waren sie alle da. Das Deutschschweizer- und Tessiner Fernsehen. Télévision Suisse Romande (was interessierte die der Zürcher Böög?) und natürlich die Deppen der privaten Sender: Zürich, Aargau und Sankt Gallen. Und die ganzen Radiosender, in allen vier Landessprachen. Mindes-
tens! Die Journalisten der Tageszeitungen, die wirklichen und die selbsternannten. Und jeder machte Fotos mit seinem Handy. Der Schweizer Cupfinal war ein Dreck dagegen. Und wo war die Sanität, oder die Polizei? Keine Spur von beiden! Außer
ihm natürlich, Eschenbach! Weil er zufällig dort gewesen war.
Zu weit weg, als dass er etwas gesehen – und zu nah, als dass
er sich nicht hätte darum kümmern müssen. Und wo zum Teufel war Kobler gewesen? Wo waren die ganzen Polizeistrategen aus Berlin? Es war wie immer: Wenn es gutging, brauchte man keinen von denen; und wenn’s schlechtlief, war niemand
da.
    Die Leute, die zehn Minuten zuvor noch in der ersten Reihe beim Böög gestanden hatten, waren auch jetzt wieder ganz vorne mit dabei. Direkt neben der toten Frau glotzten, tuschelten sie oder kauten an einer Bratwurst.
    Der Arzt verlor die Nerven. Er war es nicht gewöhnt, vor Hunderten von Leuten zu hantieren. Seine Bewegungen wurden fahrig; er schwitzte. Und die Verzweiflung war ein offenes Blatt in seinem bleichen Gesicht. In der Praxis hatte er Untersuchungsraum und Wartezimmer. Doch hier herrschte das Chaos. »Das wird nichts«, stammelte er. »Wir sollten vielleicht die Polizei … und einen Krankenwagen.«
    Und in diesem Tumult allgemeiner Verwirrung erreichte Eschenbach der Anruf von Rosa. Sie hatte es bereits dreimal versucht. Eschenbach konnte es vom Display seines Handys ablesen.
    »Ich habe alle Stellen bereits informiert«, sagte sie ruhig.»Unsere Streife, Krankenwagen, Spurensicherung … Na, Sie wissen schon. Hab’s im Fernsehen gesehen, ist es schlimm?«
    »Mhm …«
    »Ich komme … Bin in zehn Minuten bei Ihnen.«
    »Ja … ja, gerne.« Und nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu: »Sie ist tot. Vermutlich ist sie tot.«
    Aber Rosa hatte schon aufgelegt.
    Erst in diesem Augenblick bemerkte Eschenbach, dass ihm der Schweiß von Nase und Stirn tropfte, sein Hemd an ihm klebte. Nachdem er Jacke und Pullover abgelegt hatte, fror er, zog sich alles wieder über und war froh. Froh wegen Rosas kühlem Kopf. Unendlich dankbar, dass es sie gab.
    Und jetzt stand sie neben ihm, lehnte an seinem Schreibtisch und weinte seine Tränen.
    Eschenbach biss sich auf die Unterlippe. Er hasste sich für seine Rücksichtslosigkeit und seinen Egoismus, die keine Hilfe zuließen. Er hätte gerne mit Rosa geheult, aber er konnte es nicht. Rosa stand auf. »Ich geh jetzt«, schluchzte sie.
    »Nein!« Eschenbach ging auf sie zu und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Sie können nichts dafür«, murmelte er. »Sie zuletzt.«
    »Ich weiß es doch«, schniefte Rosa. »Trotzdem … Es ist so schrecklich. Der Kleine, was machen wir mit ihm? Er hat vielleicht niemand mehr.« Und noch einmal brachen die Tränen aus ihr hervor und hinterließen auf Eschenbachs Hemd dunkle, traurige Flecken.
    Dass der Junge zur toten Frau gehörte, war nicht wirklich sicher. Denn gesagt hatte der Kleine nichts. Er konnte oder wollte nicht sprechen. Auch darüber war man sich nicht ganz im Klaren.
    Er hatte getan, was kleine Kinder immer taten: Er stand im Weg. Und trotzdem (oder gerade deswegen) hatte man ihn langenicht bemerkt. Die Polizisten, die den Tatort absperrten, schickten ihn fort. Man schubste ihn weg; jemand stellte ihn neben eine Frau, die hartnäckig behauptete, es sei nicht ihr Kind.
    Eine Zeitlang kümmerte sich eine ältere Dame um den Kleinen. »Hast du deine Mami verloren? Du hast doch eine Mami, oder? Bist du weggelaufen? Sag endlich was!« Eine zweite Frau mit einem Kinderwagen gesellte sich dazu. Auch sie stellte Fragen. Fragen über Fragen, und ein Kind, das schwieg. Verkehrte Welt.
    Und immer wieder entwischte der Kleine, kroch unter dem rotweißen Band der Absperrung hindurch, suchte die Nähe der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher