Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
metallischen Kreischen der Türriegel. Ich rollte mich von meinen Kisten runter und setzte mich unten hin, den Blick auf die Tür gerichtet. Der Soldat, der sie aufzog, ging vor Überraschung leicht in die Knie.
    »Da … tja … das ist … ein blinder Passagier!«, stammelte er.
    Nach einer Pause fasste er sich.
    »Wie bist du denn da reingekommen, du Lausebengel?«
    Er rührte sich nicht von der Stelle, wandte nur den Kopf nach rechts.
    »Welimejew«, rief er, »hol den Zugführer, hier ist ein blinder Passagier.«
    Bis der Leutnant kam, ließ er sein unverhofftes Objekt nicht aus den Augen.
    Der Leutnant brachte mich in ein Gebäude, in dem sich hohe Offiziere aufhielten – Majore und Oberste. Hier wurde ich aufs eingehendste verhört: Wer ich sei, woher ich käme und wie ich in den Waggon gelangt sei. Ich berichtete wahrheitsgemäß, dass ich aus dem Wologdaer Kinderheim vor dem Zwerg geflohen sei undnach Hause wolle, nach Piter, zu meiner Matka Bronia. In Tscherepowez habe ein Kerl in mir einen Ausreißer gewittert und mich verfolgt. Da sei ich in den roten Waggon geklettert, während die Soldaten Kisten holten.
    Die Militärs führten mich in die Kantine und spendierten mir Milchsuppe und Buchweizengrütze. Und erst in dem Fressschuppen erfuhr ich, dass ich in der Nähe der estnischen Stadt Tapa sei, was mich wunderte und verdross. Ich hätte mir nicht träumen lassen, in die Heimat des Tomas Karlowitsch Japonamat zu geraten; ohne den verflixten Zwischenfall in Tscherepowez wäre ich schon in Leningrad-Piter gewesen.
    Bevor die Militärs mich dem NKWD überstellten, befahlen sie mir, niemals damit zu prahlen, dass ich in einem Waggon voller Granaten gefahren sei. Wenn ich es trotzdem täte, würde nicht mal ein Fleck von mir übrig bleiben.
Die alte Tydruku
    Das Volkskommissariat für Inneres (NKWD) schickte mich mit einem Wächter nicht nach Piter, sondern in die Stadt Tartu, in ein estnisches Kinderheim. Dieses unterschied sich kaum von den anderen staatlichen Häusern. Wahrscheinlich war es das sauberste, bestorganisierte, zugleich aber strengste von allen, in denen ich gewesen war. Die Leiterin, eine hellhäutige, hellblonde Estin, zog sich an wie eine Kommissarin. Die Zöglinge des Hauses nannten sie alte Tydruku, alte Jungfer. In ihrem Arbeitszimmer hingen über ihrem Schreibtisch, wievorgeschrieben, zwei Porträtlitografien – Stalin rechts und Berija links. Sie verhörte mich beinahe freundlich, mit einem gewissen Akzent, doch nannte sie mich wegen meiner zahlreichen Fluchten einen bösen Jungen. Falls ich mich nicht bessere, so kündigte sie an, werde sie mich in einer Arbeitskolonie für Kinder unterbringen.
    »Die ist hier in der Nähe, nicht weit von euerm Peipussee.«
    Sie hat mich wirklich in die Kolonie gesteckt, aber erst ein paar Monate später. Nachdem ich im Winter und Frühjahr Unterricht gehabt hatte, war ich Ende Mai so weit, aus dieser sterilen Einrichtung zu verschwinden. Mit dem gleichen Wunsch schloss sich mir ein lockenköpfiger Junge namens Ilja an, aber er schlug vor, nicht nach Piter zu gehen, sondern nach Riga. Dort könnten wir in einer neueröffneten Schule für Schiffsjungen unterkommen. Nach ein paar Jahren seien wir »Seewölfe« und von niemandem mehr abhängig. Nach meiner Matka könne ich neben dem Unterricht suchen. Außerdem sei es von Riga näher zu ihr. Mit alldem verlockte er mich.
    Aus dem estnischen Kinderheim zu türmen war so gut wie unmöglich, doch der Zufall kam mir zu Hilfe. Ein paar halbwüchsige Zöglinge sollten an der Handwerksschule untergebracht werden, und man führte uns hin, damit wir die Berufe kennenlernten, die dort unterrichtet wurden. Zur Schule gehörte ein Wohnheim, wo die Schüler verpflegt und eingekleidet wurden – so konnte sich das NKWD der elternlosen Esser auf gute Weise entledigen.
    Diesen Ausflug nutzten wir zur Flucht. Wir flitztenüber einen Hof in die Parallelstraße und durch sie zu den Gleisen in Richtung Westen. So gelangten wir bis zur Station Ropka. Erst hier bestiegen wir einen Zug, der nach Valga fuhr. Es dämmerte schon, als wir beim Kilometer 40 ausstiegen. Wir übernachteten unter einem Stapel Schneeschutzzäune auf Tannenzweigen. Am Morgen gingen wir noch ein Stück und stiegen beim Kilometer 44 auf die Trittbretter eines Zugs. Erst am Abend kamen wir in der estnisch-lettischen Grenzstation Valga an.
    Leider wussten wir nicht, dass die Grenze die Stadt in zwei Hälften teilte und wo die Grenze verlief. Wir hatten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher