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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
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rochen appetitlich. Ich kostete sogar davon.
    Ich erinnere mich auch, dass Felja, als er schon krank war von den Schlägen in der Schule wegen seines Vaters, des Spions, lange vor Janeks großer Landkarte stand, mit dem Finger darüber fuhr und unentwegt nach dem Ort suchte, wo unser Vater und unsere Matka Bronia jetzt sein mochten. Von daher rührt meine lebenslange Abneigung gegen die Schule. Janek aber sagte, Vater und Mutter seien ins Große Haus gebracht worden.
    Was war das für ein Haus? Und warum wurden Spione dorthin gebracht?
    Ich stellte mir vor, dass in einem tiefen Wald mit riesigen Bäumen, wie in dem Märchen vom Däumling, ein großes Haus stand, in dem viele Brüder und Schwestern lebten, lauter Spione. Doch was Spione sind, wusste niemand außer ihnen. Das war ein großes Geheimnis. Darum war der Wald so dicht und das Haus so groß. Knirpse wie ich durften dort nicht hin, aber ich wollte es schrecklich gern. Ich war doch nun allein, denn mein Bruder Felja war schon bald im Irrenhaus an einer Lungenentzündung gestorben.
    Ich kam in ein staatliches Heim, und fortan lag mein ganzes Leben in der Hand des Staates. Meine Unkenntnis des Russischen zwang mich erneut zum Verstummen,denn mein »Gezischel« ärgerte meine Altersgenossen und war gefährlich: Sie glaubten nämlich, ich wollte sie verspotten. Also wurde ich erneut für lange Zeit stumm. Wir wurden von Stadt zu Stadt gebracht, von Westen nach Osten, weg vom Krieg, und schließlich landete ich in Sibirien, in der Nähe der Stadt Omsk. Die sprechenden Jungen um mich herum schrien laut auf Russisch, fluchten sogar – damit ich wenigstens etwas verstand – und verprügelten mich manchmal. »Was zischelst du wie eine Schlange, sprich russisch!«
    So lernte ich Russisch, sprach aber, bis ich viereinhalb war, kein Wort. Ich stimmte allen zu, redete aber nicht. Russisch zu sprechen begann ich zu meiner eigenen Überraschung erst im Krieg.
    Wir bekamen unser Essen in Henkeltassen, Teller gab es nicht, nur Blechtassen und Löffel. Suppe, Hauptgericht, wenn es eines gab, und Tee – alles aus derselben Tasse. Das galt als völlig normal. Wir durften erst in den Speisesaal, wenn alle Blechtassen auf dem Tisch standen, bis dahin drängte sich die Horde hungriger Jungen vor der Tür. Sobald sie geöffnet wurde, stürzten wir uns wie kleine Tiere auf unsere Tassen. Eines Tages wurde unserem Tisch ein »Zugvogel« zugeteilt, ein Fremder, und dieser Bengel rannte an uns vorbei, leckte seinen schmutzigen Finger ab und steckte ihn nacheinander in alle unsere Tassen. Plötzlich sagte ich laut etwas auf Russisch – ich verstand selbst nicht recht, was, jedenfalls etwas mit »Mutter * «. Der schmutzige Junge erstarrte verblüfft, und die anderen erschraken. Ich konnte doch gar nicht sprechen, ich war doch taubstumm, und nun redete ich auf einmal, noch dazu auf diese Art! Seitdemsprach ich Russisch und vergaß allmählich meine Muttersprache.
    Aber ich bin vom Wichtigsten abgekommen, davon, was uns Heimkinder damals beschäftigte, welche Fragen wir miteinander erörterten.
    »Können Führer auch Menschen sein, oder sind sie nur Führer, und muss ein Führer unbedingt einen Schnurrbart haben?«
    »Wer ist besser, ein Spion oder ein Volksfeind? Oder sind beide gleich? Wir sind hier ja alle zusammen.«
    Beim Kennenlernen fragten wir einander: »Bist du Spion?«
    »Nein, Volksfeind.«
    »Vielleicht auch beides, wie ich zum Beispiel?« Oder: »Warum sagen wir zum Genossen Lenin Großvater? Er hatte doch gar keine Enkel. Vielleicht, weil er einen Bart hatte oder weil er tot ist?«
    »Der Genosse Stalin ist der Freund aller Kinder. Also auch unser Freund?«
    Der älteste Junge unter uns stellte die Frage nach Stalin sogar der Erzieherin. Sie erschrak zunächst furchtbar, dann packte sie ihn am Kragen und schleppte ihn zur Wache – wir hörten ihn dort heftig weinen. Und wir hatten noch viele, viele Fragen.
    Ich für mein Teil fand, dass ein Spion bestimmt nichts Schlechtes war. Mein russischer Vater Stepan konnte doch nicht schlecht sein. Er war nämlich sehr gut und sah schön aus – das zeigte sein Foto. Und meine liebe Matka hatte mir immer Schlaflieder vorgesungen: »Schlaf, mein liebes Kind, schlaf ein, Gott wird dein Beschützer sein …« oder

    Z popielnika na Edwasia
    Iskiereczka mruga,
    Chódź! Opowiem ci bajeczkę,
    Bajka będzie długa. *
    O matko Broniu, nimm mich mit zu den Spionen! Ich werde mit dir rozmawiać po polsku 2 .

Erster Teil

DAS
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